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himmlischen Kirche, wurde es nun als Institut zu etwas Unumgänglichem in der Religion. In dieses Institut, so lehrte man, hat der Geist Christi alles hineingelegt, was der einzelne bedarf; er ist deshalb nicht nur in der Liebe, sondern auch im Glauben ganz an dasselbe gebunden; der Geist wirkt nur hier, und alle seine Gnadengaben sind daher nur hier zu finden. Daß in der Regel der einzelne Christ, der sich nicht dem kirchlichen Institut unterordnete, ins Heidentum zurückfiel, in schlimme Irrlehren geriet oder unsittlich wurde, war freilich eine Thatsache. Sie hatte im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Gnostiker die Wirkung, daß jenes Institut samt allen seinen Einrichtungen und Formen mehr und mehr mit der „Braut Christi“[WS 1], dem „wahren Jerusalem“ u. s. w. identifiziert wurde und sich demgemäß selbst als die unantastbare Schöpfung Gottes und als die irreformable Anstalt des heiligen Geistes proklamierte. Folgerecht begann es, alle seine Anordnungen für gleich heilig auszugeben. Welche Belastung die Freiheit der Religion dadurch erlitt, braucht nicht ausgeführt zu werden.

4. Endlich – es ist im zweiten Jahrhundert das Evangelium nicht mit derselben Kraft wie im ersten als frohe Botschaft verkündet worden. Die Gründe dafür sind mannigfacher Art gewesen, teils war das eigene Erlebnis nicht so stark, wie es ein Paulus und wie es der Verfasser des vierten Evangeliums empfunden hat, teils blieb die vorherrschende eschatologische Erwartung, die jene Lehrer durch eine tiefere Predigt beschränkt hatten, durchschlagend. Furcht und Hoffnung treten in dem Christentum des zweiten Jahrhunderts stärker hervor als bei Paulus, und nur scheinbar steht jenes damit den Sprüchen Jesu näher als dieses; denn in der Verkündigung Jesu ist, wie wir gesehen haben, die Predigt von Gott als dem Vater das Hauptstück. Das ist aber, wie Röm. 8 beweist, eben die Erkenntnis, die Paulus in seiner Verkündigung vom Glauben zum Ausdruck gebracht hat. Indem nun in dem Christentum des zweiten Jahrhunderts die Furcht einen größeren Spielraum erhielt – und dieser Spielraum erweiterte sich, je mehr sich die ursprüngliche Lebendigkeit abstumpfte und die Weltförmigkeit stärker um sich griff –, wurde die Ethik unfreier, gesetzlicher und rigoristischer. Der Rigorismus ist ja stets die Kehrseite der Weltlichkeit. Da es aber unmöglich erschien, eine rigoristische Ethik allen zuzumuten, so stellte sich schon in dem werdenden Katholizismus die Unterscheidung einer vollkommenen und einer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Offb 21,9.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/137&oldid=- (Version vom 30.6.2018)