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Zwölfte Vorlesung.




Wer die innere Lage der Christenheit am Anfang des dritten Jahrhunderts mit der vergleicht, in der sie sich 120 Jahre zuvor befunden hat, wird von konträren Empfindungen und Urteilen bewegt. Einerseits steht er bewundernd vor der kraftvollen Leistung, die sich in der Schöpfung der katholischen Kirche darstellt, bewundernd auch vor der Energie, mit der sich diese Kirche nach allen Seiten ausgebaut und bethätigt hat, andererseits vermißt er mit Teilnahme so vieles Unmittelbare, Freie, aber innerlich Gebundene, was die älteste Zeit besaß. Er muß dankbar konstatieren, daß diese Kirche alle Versuche, die christliche Religion einfach in die Zeitvorstellungen zerfließen zu lassen, abgewehrt und daß sie sich wider die „akute Hellenisierung“ geschützt hat; aber er kann doch nicht verkennen, daß sie einen hohen Preis für ihre Selbstbehauptung bezahlen mußte. Wir wollen die Veränderung, die sich an ihr vollzogen hat und die wir schon berührt haben, noch etwas genauer feststellen:

1. Im Vordergrund steht die Gefährdung der Freiheit und Selbständigkeit in der Religion. Keiner soll sich als Christ, d. h. als Gotteskind, fühlen und beurteilen dürfen, der nicht zuvor seine religiöse Erfahrung und Erkenntnis der Kontrolle des kirchlichen Bekenntnisses unterworfen hat. Dem „Geist“ sind die engsten Schranken gezogen, und es wird ihm verboten, zu wirken wo und wie er will. Ja noch mehr, der einzelne soll, besondere Fälle abgerechnet, nicht nur mit der Unmündigkeit und dem kirchlichen Gehorsam anfangen, er soll auch nie ganz mündig werden, d. h. er soll die Abhängigkeit von der Lehre, dem Priester, dem Kultus und

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/135&oldid=- (Version vom 30.6.2018)