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Jahrzehnten in ihrer Lehre eine beherrschende Stellung erlangen sollte – der Logos. Das griechische Denken war von der Betrachtung der Welt und des Innenlebens aus zu dem Begriff einer wirksamen Centralidee gelangt – in welchen Stufen, kann hier unerörtert bleiben. In dieser Centralidee erblickte man die Einheit des obersten Prinzips der Welt, des Denkens und der Ethik, zugleich aber die Gottheit selbst als schaffende und wirkende im Unterschied von der ruhenden. Es war der wichtigste Schritt innerhalb der christlichen Lehrgeschichte, der je gethan worden ist, als am Anfang des 2. Jahrhunderts christliche Apologeten die Gleichung vollzogen: der Logos ist Jesus Christus. Schon vor ihnen hatten alte Lehrer unter den vielen Prädikaten, die sie Christus gaben, ihn auch „den Logos“ genannt; ja einer von ihnen, Johannes, hatte bereits den Satz aufgestellt: „der Logos ist Jesus Christus“[WS 1]; aber er hatte diesen Satz noch nicht zum Fundament der ganzen Spekulation über ihn gemacht; im Grunde war auch ihm „Logos“ nur ein Prädikat. Jetzt aber traten Lehrer auf, die vor ihrer Belehrung Anhänger der platonisch-stoischen Philosophie gewesen waren, und denen deshalb der Begriff „Logos“ ein unveräußerliches Stück ihrer Weltanschauung bildete. Sie verkündigten, daß Jesus Christus die leibhaftige Erscheinung des Logos gewesen sei, der sich vorher nur in Kraftwirkungen offenbart habe. Statt des ganz unverständlichen Begriffs „Messias“ war mit einem Schlage ein verständlicher gewonnen; die in der Fülle ihrer Aussagen schwankende Christologie empfing eine feste Form; die Weltbedeutung Christi war sicher gestellt, sein geheimnisvolles Verhältnis zur Gottheit geklärt, Kosmos, Vernunft und Ethik in eine Einheit gefaßt. In der That eine wundervolle Formel! und war sie nicht vorbereitet, ja gefordert durch die messianischen Spekulationen, wie sie der Apostel Paulus und andere alte Lehrer dargeboten hatten? Die Erkenntnis, man müsse das Göttliche in Christus als den Logos fassen, eröffnete eine Fülle von Problemen und gab ihnen doch zugleich ganz bestimmte Grenzlinien und Direktiven. Die Einzigartigkeit Christi allen Rivalen gegenüber schien auf die einfachste Weise sicher gestellt, und doch gewährte der Begriff dem Denken soviel Freiheit und Spielraum, daß je nach Bedarf Christus einerseits als die wirksame Gottheit selbst, andererseits noch immer als der Erstgeborene unter vielen Brüdern, und als der Anfang der Schöpfung Gottes, angeschaut werden konnte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Joh 1,14.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/131&oldid=- (Version vom 30.6.2018)