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ein. Aus der Religion der lebendigen Empfindung und des Herzens wird die Religion der Sitte und darum der Form und des Gesetzes. Eine neue Religion mag mit der größten Kraft, dem höchsten Enthusiasmus und gewaltigen inneren Erschütterungen einsetzen, sie mag dabei die geistige Freiheit noch so sehr betonen – wo ist das alles jemals lebendiger zum Ausdruck gekommen als in der Verkündigung des Paulus? –, dennoch, selbst wenn man die Gläubigen zur Ehelosigkeit zwingt und nur Erwachsene aufnimmt, wird der Prozeß der Verdichtung und Vergesetzlichung nicht ausbleiben. Sofort erstarren dann die Formen der Religion; sie erhalten eben durch die Erstarrung erst wirkliche Bedeutung, und neue Formen treten hinzu. Sie bekommen nicht nur den Wert von Regeln und Gesetzen, sondern unvermerkt werden sie so angeschaut, als umschlössen sie den Inhalt der Religion selbst, ja wären der Inhalt. Die, welche die Religion nicht empfinden, müssen sie so anschauen; denn sonst hätten sie überhaupt nichts, und die, welche wirklich noch in der Religion leben, müssen sie so handhaben; denn sonst vermögen sie auf die andern nicht einzuwirken. Jene sind keineswegs notwendig Heuchler. Die eigentliche Religion ist ihnen freilich verschlossen; das wichtigste Element ist ausgeströmt.[AU 1] Aber man vermag, ohne in der Religion zu leben, sie doch aus verschiedenen Gesichtspunkten zu schätzen. Die Schätzung kann eine moralische sein oder eine polizeiliche, sie kann vor allem auch eine ästhetische sein. Als am Anfang dieses Jahrhunderts der Katholizismus bei uns und in Frankreich durch die Romantiker wieder zurückgeführt wurde, da war es vor allem Chateaubriand, der sich in der Verherrlichung desselben nicht genug thun konnte und sich ganz als Katholiken zu empfinden meinte. Aber ein scharfblickender Kritiker erklärte, Herr Chateaubriand irre sich in seiner Empfindung; er glaube ein wirklicher Katholik zu sein; in Wahrheit stehe er vor der alten Ruine der Kirche und rufe aus: „O, wie schön!“ Das ist eine der Formen, in denen man eine Religion schützen kann, ohne ihr innerlich anzugehören; es giebt aber noch viele andere, und unter ihnen sind auch solche, die dem wirklichen Inhalt derselben näher stehen. Sie alle aber haben das Gemeinsame, daß das eigentliche Erlebnis der Religion nicht mehr erlebt wird oder nur unsicher und gebrochen. Dagegen werden ihre abgeleiteten Erscheinungen und Wirkungen hoch gehalten und sorgsam gehütet. Das, was in den Lehren, Regeln, Ordnungen und kul-

Anmerkung des Autors (1908)

  1. „das wichtigste Element ist ausgeströmt“ – besser: „aus der Religion, wie sie sie haben, ist das wichtigste Element ausgeströmt“.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/128&oldid=- (Version vom 30.6.2018)