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in Bezug auf die zum Katholizismus entwickelte Kirche allem zuvor zu fragen, worin hat ihre Arbeit bestanden, welche Aufgabe hat sie gelöst, was hat sie geleistet? Ich stelle die Antwort an die Spitze. Sie hat ein Doppeltes geleistet: erstlich, sie hat den Naturdienst, den Polytheismus und die politische Religion bekämpft und mächtig zurückgedrängt; zweitens, sie hat die dualistische Religionsphilosophie überwunden. Die Kirche am Anfang des dritten Jahrhunderts hätte auf die vorwurfsvolle Frage: „Wie konntest du dich von deinen Anfängen so weit entfernen, was ist aus dir geworden?“ antworten können: „Ja, so bin ich geworden; vieles habe ich abwerfen müssen, vieles auf mich nehmen; ich habe kämpfen müssen, mein Leib ist voll Narben und mein Gewand ist mit Staub bedeckt; aber ich habe Siege erfochten und habe gebaut; ich habe den Polytheismus zurückgeschlagen; ich habe die politische Religion entwertet und diese Spottgeburt nahezu vernichtet; ich habe den Verlockungen einer tiefsinnigen Religionsphilosophie kein Gehör geschenkt und habe ihr den allmächtigen Schöpfergott siegreich entgegengestellt; ich habe endlich einen großen Bau gezimmert, eine Festung mit Türmen und Bollwerken; in ihr bewache ich meine Schätze und schütze die Schwachen.“ So hätte sie antworten können und hätte die Wahrheit gesprochen. Aber, wendet man ein, Kampf und Sieg gegenüber dem Naturdienst und dem Polytheismus war etwas Geringes; sie waren schon morsch und hohl geworden und besaßen nur noch wenig Kraft. Der Einwand ist nicht richtig. Gewiß, viele Ausgestaltungen dieser Art von Religion waren von der Zeit überholt und dem Untergang nahe; aber sie selbst, die Naturreligion, war ein gewaltiger Gegner. Noch heute vermag sie unsre Seelen zu berücken und mächtig die Saiten unseres Gemütes zu rühren, wenn ein begeisterter Prophet sie verkündet – wie viel mehr damals! Das hohe Lied von der Sonne, die allem lebendigen Leben giebt, hat selbst einen Goethe zeitlebens mit religiöser Gewalt ergriffen und ihn zu einem Sonnenanbeter gemacht.[WS 1] Wie hinreißend aber war dieser Hymnus in jenen Tagen, da die Wissenschaft die Natur noch nicht entgöttert hatte! Das Christentum hat die Naturreligion überwunden, überwunden nicht nur für diesen oder jenen einzelnen – das war immer geschehen –, sondern so, daß nun eine große, feste Gemeinschaft da war, die durch eindrucksvolle Lehren den Naturdienst und Polytheismus widerlegte und der tieferen religiösen Stimmung Halt und Stütze

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. etwa Goethes Äußerung gegenüber Johann Peter Eckermann (1792–1854), in: ders. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, S. 747f.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/126&oldid=- (Version vom 30.6.2018)