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ziplin“ von der „Glaubensregel“ scharf unterschieden. Jede Kirche stellt sich aber auch als eine Kultusanstalt dar, in welcher Gott nach einem feierlichen Ritual verehrt wird. Charakteristisch tritt in dieser Kultusanstalt bereits der Unterschied von Priestern und Laien hervor; gewisse gottesdienstliche Akte kann überhaupt nur der Priester vollziehen; seine Vermittlung ist durchaus notwendig. Aber überhaupt – nur durch Vermittlungen soll man sich Gott nahen, durch Vermittlung der rechten Lehre, der rechten Ordnungen und eines heiligen Buches. Der lebendige Glaube scheint sich in ein zu glaubendes Bekenntnis verwandelt zu haben, die Hingabe an Christus in Christologie, die brennende Hoffnung auf das „Reich“ in Unsterblichkeits- und Vergottungslehre, die Prophetie in gelehrte Exegese und theologische Wissenschaft, die Geistesträger in Kleriker, die Brüder in bevormundete Laien, die Wunder und Heilungen in nichts oder in Priesterkunststücke, die heißen Gebete in feierliche Hymnen und Litaneien, der „Geist“ in Recht und Zwang. Dabei stehen die einzelnen Christen mitten im weltlichen Leben, und die brennendste Frage lautet: Wieviel von diesem Leben darf man „mitmachen“, ohne seinen Christenstand einzubüßen? In 120 Jahren hat sich diese ungeheure Wandlung vollzogen! Wir fragen erstlich: Wie ist das geworden? sodann: Hat sich das Evangelium unter diesem Wechsel der Dinge zu behaupten vermocht, und wie hat es sich behauptet?


Bevor wir diese beiden Fragen zu beantworten suchen, haben wir uns aber einer Anweisung zu erinnern, die der Historiker niemals vernachlässigen darf. Wer den wirklichen Wert und die Bedeutung einer großen Erscheinung, einer mächtigen Hervorbringung der Geschichte, feststellen will, der muß allem zuvor nach der Arbeit fragen, die sie geleistet, bezw. nach der Aufgabe, die sie gelöst hat. Wie jeder einzelne verlangen kann, daß er nicht nach dieser oder jener Tugend oder Untugend, nicht nach seinen Gaben oder nach seinen Schwächen beurteilt werde, sondern nach seinen Leistungen, so müssen auch die großen geschichtlichen Gebilde, die Staaten und die Kirchen, in erster Linie – man darf vielleicht sagen, ausschließlich – nach dem geschätzt werden, was sie geleistet haben. Die Arbeit entscheidet. In jedem anderen Falle kommt man zu ganz vagen, bald optimistischen, bald pessimistischen Urteilen und zu geschichtlichen Kannegießereien. So haben wir auch hier

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/125&oldid=- (Version vom 30.6.2018)