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verschiedensten Bedingungen zu existieren, wie sie ursprünglich ihre Kraft unter dem Schutz der jüdischen Religion entfaltet hat. Aber sie kann es nicht nur – sie muß es, wenn anders sie die Religion der Lebendigen sein will und selbst lebendig ist. Sie hat, als Evangelium, nur ein Ziel, daß der lebendige Gott gefunden werde, daß jeder einzelne ihn finde als seinen Gott und an ihm Stärke und Freude und Friede gewinne. Wie es dieses Ziel durch die Jahrhunderte fortschreitend erreicht, ob mit dem Koeffizienten des Jüdischen oder des Griechischen, der Weltflucht oder der Kultur, des Gnosticismus oder des Agnosticismus, einer Kirchenanstalt oder eines ganz freien Vereins oder was es sonst noch für Rinden geben mag, die den Kern schützen und in denen der Saft aufsteigt, das alles ist Nebensache, ist dem Wechsel unterworfen, gehört den Jahrhunderten an, kommt mit ihnen und geht mit ihnen.

Die größte Wandlung nun, welche die neue Religion je erlebt hat, beinahe noch größer als die, durch welche die heidenchristliche Kirche entstand und die palästinensischen Gemeinden in den Hintergrund rückten – die größte Wandlung fällt in das zweite Jahrhundert unserer Zeitrechnung und somit in den Kreis unserer heutigen Betrachtung.

Nehmen wir unseren Standort um das Jahr 200, etwa 100–120 Jahre nach dem apostolischen Zeitalter. Drei oder vier Generationen waren seit seinem Ablauf vergangen, nicht mehr – welchen Anblick gewährt die christliche Religion nun?

Wir sehen ein großes kirchlich-politisches Gemeinwesen, daneben zahlreiche „Sekten“, die sich christlich nennen, denen aber dieser Name abgesprochen wird und die bitter bekämpft werden. Jenes große kirchlich-politische Gemeinwesen stellt sich als ein das Reich umspannender Verband von einzelnen Gemeinden dar. Jede ist selbständig, aber sie sind wesentlich gleichartig verfaßt und miteinander durch ein und dasselbe Lehrgesetz und durch feste Regeln für die Interkommunion verbunden. Das Lehrgesetz scheint auf den ersten Blick wenig umfangreich zu sein, aber jeder seiner Sätze ist von weittragendster Bedeutung; zusammen umschließen sie eine Fülle metaphysischer, kosmologischer und geschichtlicher Fragen, beantworten sie bestimmt und geben Aufschluß über die Entwicklung der Menschheit von der Schöpfung bis zu ihrer zukünftigen Existenzform. Die Anweisungen Jesu für die Lebensführung sind nicht in dies Lehrgesetz aufgenommen; sie werden als „Regel der Dis-

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/124&oldid=- (Version vom 30.6.2018)