Sanftmut, Keuschheit.“[WS 1] Das ist das andere Merkmal der Eigenart und Größe dieser Religion, daß sie die elementare Kräftigkeit, welche sie entbunden hat, nicht überschätzte, daß sie ihren geistigen Inhalt und ihre Zucht triumphieren ließ über alle Ekstasen, und daß sie sich in der Überzeugung nicht erschüttern ließ, der Geist Gottes, wie er auch immer sich offenbaren möge, sei ein Geist der Heiligkeit und der Liebe. Damit sind wir bereits zu dem dritten Stück, welches die älteste Christenheit charakterisiert, übergegangen.
3. Das heilige Leben in Reinheit und Brüderlichkeit und in der Erwartung der nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi – der Gang, den die Kirchengeschichte genommen hat, hat es herbeigeführt, daß man im Neuen Testament viel mehr die dogmatischen Ausführungen hervorgesucht und erörtert hat als die Abschnitte, in denen uns das Leben der ältesten Christen geschildert wird und sittliche Ermahnungen gegeben werden. Und doch füllen diese nicht nur einen großen Teil der neutestamentlichen Briefe, sondern auch nicht wenige sog. dogmatische Abschnitte sind lediglich um sittlicher Admonition willen geschrieben. Sie in den Vordergrund zu rücken, hat Jesus seine Jünger angewiesen, und die älteste Christenheit wußte es noch, daß ihre erste Aufgabe im Leben sei, den Willen Gottes zu thun und sich als eine heilige Gemeinde darzustellen. Ihre ganze Existenz und ihre Mission beruhte darauf. Zwei Hauptstücke standen ihr nach den Sprüchen Jesu dabei in erster Linie, und sie umfaßten im Grunde alle sittliche Bethätigung: die Reinheit und die Brüderlichkeit. Reinheit im tiefsten und umfassendsten Sinn des Worts als der Abscheu vor allem Unheiligen und als die innere Freude an Lauterkeit und Wahrheit, an allem, was lieblich ist und wohllautet. Reinheit auch in Bezug auf den Leib. „Wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist? Darum preiset Gott an eurem Leibe.“[WS 2] In diesem hohen Bewußtsein haben die alten Christen den Kampf aufgenommen gegen die Sünden der Unreinheit, die im Heidentum gar nicht als Sünden galten. Als Kinder Gottes unsträflich „mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, unter welchem ihr scheinet als Lichter in der Welt“[WS 3] – so sollten sie sich bewähren und haben sie sich bewährt. Heilig sein wie Gott, rein sein als Jünger Christi – darin ist auch das Maß von Verzicht auf die Welt gegeben, welches diese Gemeinde sich auferlegt hat. „Sich von der
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/109&oldid=- (Version vom 30.6.2018)