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daß das Leiden des Gerechten und Reinen das Heil in der Geschichte ist, d. h. daß nicht Worte, sondern Thaten, aber auch nicht Thaten, sondern nur aufopferungsvolle Thaten, aber nicht bloß aufopferungsvolle Thaten, sondern nur die Hingabe des Lebens über die großen Fortschritte in der Geschichte entscheidet. In diesem Sinn glaube ich, daß, so fern uns alle Stellvertretungstheorien liegen mögen, doch nur wenige unter uns sein werden, die das innere Recht und die Wahrheit einer Ausführung wie die Jesaja c. 53 verkennen: „Fürwahr, Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“[WS 1] „Niemand hat größere Liebe, denn daß er sein Leben läßt für seine Freunde“[WS 2] – so hat man von Anfang an den Tod Christi betrachtet. Je sittlich zarter jemand fühlt, um so sicherer wird er überall in der Geschichte, wo Großes geschehen ist, das stellvertretende Leiden empfinden und auf sich beziehen. Hat Luther im Kloster nur für sich gerungen, hat er nicht für uns alle mit der Religion, die ihm überliefert war, gekämpft und innerlich geblutet? Aber das Kreuz Jesu Christi ist es gewesen, an welchem die Menschheit die Macht der im Tode sich bewährenden Reinheit und Liebe so erfahren hat, daß sie es nicht mehr vergessen kann, und daß diese Erfahrung eine neue Epoche ihrer Geschichte bedeutet.

Endlich drittens: Keine „vernünftige“ Reflexion und keine „verständige“ Erwägung wird aus den sittlichen Ideen der Menschheit die Überzeugung austilgen können, daß Unrecht und Sünde Strafe verlangen, und daß überall, wo der Gerechte leidet, sich eine beschämende und reinigende Sühne vollzieht. Undurchdringlich ist diese Überzeugung; denn sie stammt aus den Tiefen, in denen wir uns als eine Einheit fühlen, und aus der Welt, die hinter der Welt der Erscheinung liegt. Verspottet und verleugnet, als wäre sie längst nicht mehr vorhanden, behauptet sich diese Einsicht unzerstörbar im sittlichen Empfinden der Menschen. Das sind die Gedanken, die von Anfang an durch den Tod Christi erweckt worden sind und ihn gleichsam umspült haben. Es sind noch andere entfesselt worden – minder bedeutende und doch zeitweilig sehr wirksame –, aber diese wurden die mächtigsten. Sie haben sich zu der festen Überzeugung verdichtet, daß Er durch sein Todesleiden etwas Entscheidendes gethan und daß Er es „für uns“[WS 3] gethan hat. Wollten wir versuchen, es auszumessen und, zu registrieren, wie man es sehr bald versucht hat, so kämen wir zu abschreckenden Paradoxien, aber nachempfinden können wir es mit der Freiheit, mit der es

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jes 53,4a.
  2. Joh 15,13.
  3. Vgl. 1. Thess 5,9f.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/104&oldid=- (Version vom 30.6.2018)