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vollends aber auf einen toten Strang würden wir geführt, wenn wir uns in Spekulationen darüber einließen, welche Notwendigkeit für die Gottheit bestanden hat, einen solchen Opfertod zu verlangen. Wir wollen uns erstlich einer ganz allgemeinen religionsgeschichtlichen Thatsache erinnern. Die, welche diesen Tod als Opfertod beurteilten, hörten bald auf, noch irgend welche blutige Opfer Gott darzubringen. Die Geltung der blutigen Opfer war zwar schon seit Generationen in Zweifel gestellt und in einem Rückgang begriffen; nun aber erst verschwanden sie gänzlich. Nicht sofort und mit einem Schlage – das braucht uns hier nicht zu kümmern –, wohl aber in kürzester Frist und nicht erst seit der Zerstörung des jüdischen Tempels. Weiter aber, wohin die christliche Predigt in der Folgezeit kam, da verödeten die Opferaltäre und die Opfertiere fanden keinen Käufer mehr. Der Tod Christi – darüber kann kein Zweifel sein – hat den blutigen Opfern in der Religionsgeschichte ein Ende gemacht. Ein tiefer religiöser Gedanke liegt ihnen zu Grunde, wie schon ihre Verbreitung bei so vielen Völkern beweist, und sie dürfen nicht von kalten und blinden Rationalisten beurteilt werden, sondern von lebendig fühlenden Menschen. Wenn es nun offenbar ist, daß sie einem religiösen Bedürfnisse entsprochen haben, wenn es ferner gewiß ist, daß der Trieb, der zu ihnen geführt hat, in dem Tode Christi seine Befriedigung und darum sein Ende gefunden hat, wenn endlich ausdrücklich bezeugt worden ist, wie wir das im Hebräerbrief lesen: „Mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden“[WS 1] –, so wird uns die Vorstellung nicht mehr so fremdartig berühren; denn die Geschichte hat ihr recht gegeben, und wir beginnen sie nachzuempfinden. Dieser Tod hatte den Wert eines Opfertodes; denn sonst hätte er nicht die Kraft besessen, in jene innere Welt einzugreifen, aus der die blutigen Opfer hervorgegangen sind; aber er war kein Opfertod wie die anderen, sonst hätte er ihnen nicht ein Ende machen können: er hob sie auf, indem er sie abschloß. Noch mehr dürfen wir sagen – die Geltung der dinglichen Opfer überhaupt ist durch den Tod Christi abgethan worden. Wo immer einzelne Christen oder ganze Kirchen zu ihnen zurückgekehrt sind, da war es ein Rückfall: die alte Christenheit hat es gewußt, daß nun das ganze Opferwesen beseitigt ist, und wenn sie Rechenschaft geben sollte, wodurch, so verwies sie auf den Tod Christi.

Zweitens: Wer in die Geschichte hineinschaut, der erkennt,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hebr 10,14.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 099. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/103&oldid=- (Version vom 30.6.2018)