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ist, daß sein Wort die Richtschnur des Lebens seiner Jünger bleiben soll, daß sie halten wollen „alles, was er ihnen geboten hat“[WS 1]. Aber darin ist der Begriff „der Herr“ nicht erschöpft, ja seine Eigentümlichkeit noch gar nicht getroffen. Die Urgemeinde nannte Jesus ihren Herrn, weil er das Opfer seines Lebens für sie gebracht hatte, und weil sie überzeugt war, daß er, auferweckt, nun zur Rechten Gottes sitze. Es gehört zu den sichersten geschichtlichen Thatsachen, daß nicht etwa erst der Apostel Paulus die Bedeutung des Todes Christi und die Bedeutung seiner Auferstehung so in den Vordergrund geschoben, sondern daß er mit dieser Anerkennung ganz auf dem Boden der Urgemeinde gestanden hat. „Ich habe euch überliefert“, schreibt er den Korinthern, „was ich (durch Überlieferung) empfangen habe, daß Christus gestorben ist für unsre Sünden, und daß er am dritten Tage auferweckt worden ist.“[WS 2] Paulus hat allerdings den Tod und die Auferstehung Christi zum Gegenstand einer besonderen Spekulation gemacht und das ganze Evangelium in diese Ereignisse sozusagen eingeschmolzen,[AU 1] aber bereits für den persönlichen Jüngerkreis Jesu und die Urgemeinde galten sie als grundlegend. Man darf behaupten: die bleibende Anerkennung und die Verehrung und Anbetung Jesu Christi hat hier ihren Halt empfangen. Auf dem Grunde jener beiden Stücke ist die ganze Christologie erwachsen. Es ist aber schon in den ersten zwei Menschenaltern alles von Jesus Christus ausgesagt worden, was Menschen Hohes überhaupt zu sagen vermögen. Weil man ihn als den lebendigen wußte, pries man ihn als den zur Rechten Gottes Erhöhten, als den Überwinder des Todes, als den Fürsten des Lebens, als die Kraft eines neuen Daseins, als den Weg, die Wahrheit und das Leben. Die messianischen Vorstellungen gestatteten es, ihn an den Thron Gottes zu stellen, ohne den Monotheismus zu gefährden. Aber vor allem – man empfand ihn als das wirksame Prinzip des eigenen Lebens: „Nicht ich lebe, sondern Christus lebet in mir“[WS 3]; er ist „mein“ Leben, und durch den Tod zu ihm hindurchzudringen ist Gewinn. Wo hat sich in der Geschichte der Menschheit etwas Ähnliches ereignet, daß die, welche mit ihrem Meister gegessen und getrunken und ihn in den Zügen seiner Menschlichkeit gesehen haben, ihn nicht nur verkündigten als den großen Propheten und Offenbarer Gottes, sondern als den göttlichen Lenker der Geschichte, als den „Anfang“ der Schöpfung Gottes und als die innere Kraft eines neuen Lebens! So haben

Anmerkung des Autors (1908)

  1. „und das ganze Evangelium in diese Ereignisse sozusagen eingeschmolzen“ – d. h. die Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen wurde von selbst das Evangelium.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Mt 28,20.
  2. Vgl. 1. Kor 15,3f.
  3. Vgl. Gal 2,20.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 097. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/101&oldid=- (Version vom 30.6.2018)