gabe für ihn bestanden hat. Ergründen könnte hier nur einer etwas, der eine annähernde Erfahrung gemacht hat. Ein Prophet mag versuchen, den Schleier zu heben; wir aber müssen uns begnügen, festzustellen, daß dieser Jesus, der Selbsterkenntnis und Demut gelehrt, doch sich und sich allein den Sohn Gottes genannt hat. Er weiß, daß er den Vater kennt, daß er diese Erkenntnis allen bringen soll, und daß er damit das Werk Gottes selber treibt. Es ist das größte unter allen Werken Gottes, Ziel und Ende seiner Schöpfung. Ihm ist es übertragen, und er wird es in Gottes Kraft durchführen. Aus diesem Kraftgefühl heraus und im Ausblick auf den Sieg hat er das Wort gesprochen: „Alle Dinge[AU 1] sind mir übergeben von meinem Vater.“[WS 1] Je und je sind in der Menschheit Männer Gottes aufgetreten mit dem sicheren Bewußtsein, eine göttliche Botschaft zu besitzen und sie, wollend oder nicht wollend, verkündigen zu müssen. Aber immer war die Botschaft unvollkommen, an dieser oder jener Stelle brüchig, mit Politischem und mit Partikularem verflochten, auf einen augenblicklichen Zustand berechnet, und der Prophet bestand sehr oft die Probe nicht, selbst das Exempel seiner Botschaft zu sein. Hier aber wird die tiefste und umfassendste Botschaft gebracht, die den Menschen an seinen Wurzeln faßt und, im Rahmen des jüdischen Volks, sich an die ganze Menschheit richtet – die Botschaft von Gott dem Vater. Sie ist nicht brüchig, und ihr eigentlicher Inhalt löst sich leicht aus den notwendigen Hüllen zeitgeschichtlicher Formen. Sie ist nicht veraltet, sondern triumphiert noch heute stark und lebendig über alles Geschehen. Und der sie verkündigt hat, hat noch keinem seine Stelle abgetreten und giebt noch heute dem Leben der Menschen einen Sinn und das Ziel – er, der Sohn Gottes.
Damit sind wir bereits zu der anderen Selbstbezeichnung Jesu übergegangen: Messias. Bevor ich sie kurz zu erläutern versuche, ist es mir Pflicht zu erwähnen, daß bedeutende Gelehrte – unter ihnen Wellhausen – es bezweifelt haben, daß Jesus sich selbst als Messias bezeichnet hat.[AU 2] Ich vermag dem aber nicht beizustimmen, ja ich finde, daß man unsere evangelischen Berichte aus den Angeln heben muß, um das Gewünschte zu erreichen. Bereits der Ausdruck „Menschensohn“ scheint mir nur messianisch verstanden werden zu können – daß ihn aber Jesus selbst gebraucht hat, ist nicht zu bezweifeln –, und, um von anderem zu schweigen, eine Geschichte wie die des Einzugs Christi in Jerusalem müßte man
Anmerkungen des Autors (1908)
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Mt 11,27.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 082. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/086&oldid=- (Version vom 30.6.2018)