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bedarf. Dagegen ist uns die Bezeichnung „Messias“, wenn wir uns nicht mit einem toten Wort begnügen wollen, zunächst ganz fremd. Wir verstehen nicht ohne weiteres, ja wir verstehen als Nicht-Juden überhaupt nicht, was diese Würde besagen soll und welchen Umfang und welche Höhe sie hat. Erst wenn wir ihren Sinn durch geschichtliche Untersuchungen ermittelt haben, können wir fragen, ob dem Wort eine Bedeutung zukommt, die irgendwie bestehen bleibt, auch nachdem die jüdisch-politische Form und Schule zerbrochen ist.

Betrachten wir zunächst die Bezeichnung „Sohn Gottes“. Jesus hat es uns in einer seiner Reden besonders deutlich gemacht, warum und in welchem Sinne er sich den „Sohn Gottes“ genannt hat. Bei Matthäus, nicht etwa bei Johannes, steht das Wort: „Niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater,[AU 1] und niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren.“[WS 1] Die Gotteserkenntnis ist die Sphäre der Gottessohnschaft.[AU 2] Eben in dieser Gotteserkenntnis hat er das heilige Wesen, welches Himmel und Erde regiert, als Vater, als seinen Vater kennen gelernt. Sein Bewußtsein, der Sohn Gottes zu sein, ist darum nichts anderes als die praktische Folge der Erkenntnis Gottes als des Vaters und seines Vaters. Recht verstanden ist die Gotteserkenntnis der ganze Inhalt des Sohnesnamens. Aber ein Doppeltes ist hinzuzufügen: Jesus ist überzeugt, Gott so zu kennen, wie keiner vor ihm, und er weiß, daß er den Beruf hat, allen anderen diese Gotteserkenntnis – und damit die Gotteskindschaft – durch Wort und That mitzuteilen. In diesem Bewußtsein weiß er sich als der berufene und von Gott eingesetzte Sohn, als der Sohn Gottes, und darum kann er sprechen: Mein Gott und mein Vater, und er legt in diese Anrufung etwas hinein, was nur ihm zusteht. Wie er zu diesem Bewußtsein der Einzigartigkeit seines Sohnesverhältnisses gekommen ist, wie er zu dem Bewußtsein seiner Kraft gelangt ist und der Verpflichtung und Aufgabe, die in dieser Kraft liegen, das ist sein Geheimnis, und keine Psychologie wird es erforschen. Die Zuversicht, in der ihn Johannes zum Vater sprechen läßt:[AU 3] „Du hast mich geliebt, ehe denn die Welt gegründet war“[WS 2], ist sicherlich der eigenen Gewißheit Jesu abgelauscht. Hier hat alle Forschung stille zu halten. Auch das vermögen wir nicht zu sagen, seit wann er sich als der Sohn gewußt und ob er sich dann ganz und gar mit diesem Begriff identifiziert hat, ob sein Ich mit demselben verschmolzen war oder ob hier noch eine Spannung und innere Auf-

Anmerkungen des Autors (1908)

  1. In meiner Schrift über „Die Sprüche und Reden Jesu“ (1907) S. 189ff. habe ich zu zeigen versucht, daß das Satzglied: „Und niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater“, nicht ursprünglich ist.
  2. Hier ist mir eine willkürliche Umkehrung des Tatbestandes vorgeworfen worden, da nach dem Wortlaut des Spruchs vielmehr das Sohnesbewußtsein Jesu das Primäre und die Gotteserkenntnis die Folge sei. Allein das ist eine gedankenlose Einwendung. Um Ursache und Folge handelt es sich überhaupt nicht, sondern um Konstatierung, daß Gott der Vater nur von dem Sohn und von denen, denen es der Sohn offenbart, erkannt wird. Da diese eben durch diese Erkenntnis zu Söhnen Gottes werden und in ihr „das Leben“ haben (s. auch Joh. 17,2.3), so hat auch „der Sohn“ in dieser Erkenntnis sein Leben. Hat er aber in dieser Erkenntnis das Leben, so hat er in ihr auch seine Existenz als Sohn, also die Sohnschaft. Dieser Zusammenhang von Erkenntnis, Leben und Sohnschaft ist keineswegs erst johanneisch oder gar griechisch, sondern schon alttestamentlich.
  3. Die „Echtheit“ des johanneischen Spruches ist damit nicht behauptet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 11,27.
  2. Joh 17,24.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 081. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/085&oldid=- (Version vom 30.6.2018)