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5. Das Evangelium und der Gottessohn, oder die Frage der Christologie.

Wir treten jetzt aus dem Kreise der Fragen, die wir bisher behandelt haben, heraus. Jene vier hingen alle aufs engste untereinander zusammen. Überall, wo man die richtige Antwort verfehlt hat, lag der Grund darin, daß man das Evangelium nicht hoch genug genommen, daß man es doch irgendwie auf das Niveau irdischer Fragen herabgezogen und mit ihnen verflochten hat. Oder anders ausgedrückt: Die Kräfte des Evangeliums beziehen sich auf die tiefsten Grundlagen menschlichen Wesens und nur auf sie; lediglich hier setzen sie den Hebel an. Wer daher nicht auf die Wurzeln der Menschheit zurückzugehen vermag, wer sie nicht empfindet und erkennt, der wird das Evangelium nicht verstehen, wird es zu profanieren versuchen oder sich über seine Unbrauchbarkeit beklagen.

Nun aber treten wir an ein ganz neues Problem heran: welche Stellung hat sich Jesus selbst, indem er das Evangelium verkündete, zu dieser seiner Botschaft gegeben, und wie wollte er selbst aufgenommen sein? Wir sprechen noch nicht davon, wie ihn seine Jünger erfaßt, ins Herz geschlossen und beurteilt haben, sondern lediglich von seinem Selbstzeugnis. Aber auch schon mit dieser Untersuchung treten wir in den großen und viel umstrittenen Kreis von Fragen, die die Kirchengeschichte seit dem ersten Jahrhundert bis zur Gegenwart bedecken. Um einer Nuance willen kündigte man sich hier die brüderliche Gemeinschaft und sind Tausende geschmäht, verworfen, in Ketten gelegt und hingemordet worden. Es ist eine schaurige Geschichte. Auf dem Boden der „Christologie“ haben die Menschen ihre religiösen Lehren zu furchtbaren Waffen geschmiedet und Furcht und Schrecken verbreitet. Diese Haltung dauert noch immer fort, die Christologie wird behandelt, als böte das Evangelium keine andere Frage, und der Fanatismus, der sie begleitet, ist auch heute noch lebendig. Daß das Problem von einer solchen Last der Geschichte bedrückt und den Parteien ausgeliefert, verdunkelt ist – wer sollte sich darüber wundern? Und doch, wer mit unbefangenem Blick in unsere Evangelien schaut, für den ist die Frage des Selbstzeugnisses Jesu keine unlösbare. Was aber in ihr dem Verstand dunkel und geheimnisvoll bleibt, das sollte im Sinne Jesu und nach der Natur des Problems so bleiben und kann nur in Bildern von

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 079. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/083&oldid=- (Version vom 30.6.2018)