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wir arbeiten, sondern soviel als wir uns der Liebe anderer erfreuen und selbst Liebe üben! Und so bat Faust recht: Arbeit, die nichts als Arbeit ist, wird zum Ekel: „Man sehnt sich nach des Lebens Bächen, ach, nach des Lebens Quelle hin.“[WS 1]

Arbeit ist ein schätzenswertes Ventil, welches wir brauchen gegenüber größeren Nöten; aber sie ist an sich kein absolutes Gut, und wir können sie nicht mit unsern Idealen zusammenstellen. Ähnliches gilt von dem Kulturfortschritt. Gewiß, er ist zu begrüßen. Aber was heute ein Fortschritt ist, dessen wir uns freuen, wird morgen etwas Mechanisches, das uns kalt läßt. Der tiefer fühlende Mensch nimmt dankbar entgegen, was ihm die fortschreitende Entwicklung der Dinge bringt; aber er weiß auch, daß seine innere Situation – die Fragen die ihn bewegen, und die Grundverhältnisse, in denen er steht – nicht wesentlich, ja kaum unwesentlich, durch das alles geändert wird. Es scheint immer nur einen Augenblick so, als käme nun ein Neues und man sei wirklich entlastet. Meine Herren! Wenn man älter geworden ist und tiefer ins Leben sieht, findet man sich, wenn man überhaupt eine innere Welt besitzt, durch den äußeren Gang der Dinge, durch den „Kulturfortschritt“, nicht gefördert. Man findet sich vielmehr an der alten Stelle und muß die Kräfte aufsuchen, die auch die Vorfahren aufgesucht haben. Man muß sich heimisch machen in dem Reiche Gottes, in dem Reiche des Ewigen und der Liebe, und man versteht es, daß Jesus Christus nur von diesem Reiche zeugen und sprechen wollte, und dankt es ihm.

Aber drittens, Jesus hatte ein lebendiges und sicheres Bewußtsein von dem Aggressiven und Vorwärtstreibenden seiner Predigt. „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, und“ – fügte er hinzu – „ich wollte, es brennte schon.“[WS 2] Das Feuer des Gerichts und die Kräfte der Liebe wollte er heraufführen, um eine neue Menschheit zu schaffen. Wenn er von diesen Liebeskräften in der einfachen Weise geredet hat, wie sie den nächsten Verhältnissen entsprach – Hungrige speisen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen –, so ist doch klar, daß ihm eine ungeheure innere Umwälzung der Menschheit, die er in dem Spiegel des kleinen palästinensischen Volkes sah, vorschwebte: „Einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder.“[WS 3] Es ist die letzte Stunde, aber in dieser letzten Stunde soll noch ein Baum aus kleinem Samenkorn aufwachsen, der seine Zweige weithin ausbreitet. Und noch ein anderes:

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Wolfgang von Goethe, Faust - Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer, Zeile 1200-1201.
  2. Lk 12,49.
  3. Mt 23,8.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 077. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/081&oldid=- (Version vom 30.6.2018)