und Recht haben einfach aufzuhören. Demgegenüber finden wir andere, welche mit größerer oder geringerer Entschiedenheit behaupten, das Evangelium schütze das Recht und alle Rechtsverhältnisse, ja heilige sie und hebe sie damit in die göttliche Sphäre. Dies sind, kurz gefaßt, die beiden Hauptanschauungen, die sich hier gegenüber stehen.
Was nun die letztere betrifft, so bedarf es nicht vieler Worte. Es ist ein Hohn auf das Evangelium, zu sagen, daß es alles, was sich als Recht und Rechtsverhältnisse in einem gegebenen Momente darstellt, schütze und heilige. Gewähren lassen und dulden ist etwas anderes als bekräftigen und konservieren. Ja man muß ernsthaft fragen, ob auch nur von Duldung die Rede sein könne, und ob nicht Tolstoi hier richtig geurteilt hat. Um der Schwierigkeit der Sache willen müssen wir etwas ausholen:
Jahrhunderte hindurch hatten Bedrückte und Arme im Volke Israel nach ihrem Rechte geschrieen. In den Worten der Propheten und aus den Gebeten der Psalmisten vernehmen wir heute noch in ergreifender Weise diesen Schrei, der doch immer wieder überhört wurde. Es gab keine Rechtsordnung, die nicht unter der Gewalt tyrannischer Gewalthaber stand und von ihnen nach Gutdünken verkehrt und ausgebeutet wurde. Wir dürfen daher, wenn wir von Rechtsordnungen und -übung hier sprechen und Jesu Verhältnis zu ihnen untersuchen, nicht sofort an unsere Rechtsverhältnisse denken, die zum Teil auf dem Boden des Christentums erwachsen sind. Jesus stand in einer Nation, deren größere Hälfte Generationen hindurch vergebens ihr Recht verlangt hatte und die das Recht nur als Gewalt kannte. In einem solchen Volke mußte mit Notwendigkeit Verzweiflung an dem Rechte überhaupt Platz greifen; Verzweiflung sowohl in Bezug auf die Möglichkeit, auf Erden Recht zu bekommen, als – in umgekehrter Richtung – in Bezug auf die sittliche Zulässigkeit des Rechts. Etwas von dieser Stimmung kann man auch im Evangelium wahrnehmen. Aber, und dies ist das Zweite und korrigiert immer wieder diese Stimmung: Jesus ist mit allen wahrhaft Frommen felsenfest davon überzeugt gewesen, daß Gott schließlich Recht schafft. Schafft er es nicht hier, so schafft er es dort, und das ist die Hauptsache. In diesem Zusammenhange ist für Jesus die Idee des Rechts im Sinne der gerechten Vergeltung nicht eine verwerfliche, sondern eine hohe, ja beherrschende gewesen. Sie ist die Majestätsfunktion Gottes –
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 069. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/073&oldid=- (Version vom 30.6.2018)