pheten gehalten‘, da doch im Gesetz geschrieben steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Siehe, viele deiner Brüder, Söhne Abrahams, liegen in schmutzigen Lumpen und sterben Hungers, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und nichts kommt aus ihm zu ihnen heraus.“[WS 1] – Sie sehen, wie Jesus die materielle Not der Armen empfunden und wie er die Abhilfe solcher Not aus dem Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“[WS 2], abgeleitet hat. Die sollen nicht von Nächstenliebe sprechen, die es ertragen können, daß neben ihnen Menschen im Elend verkümmern und sterben! Das Evangelium predigt nicht nur Solidarität und Hülfeleistung – es hat an dieser Predigt seinen wesentlichen Inhalt.[AU 1] In diesem Sinne ist es im Tiefsten sozialistisch, wie es im Tiefsten individualistisch ist, weil es den unendlichen und selbständigen Wert jeder einzelnen Menschenseele feststellt. Seine Tendenz auf Zusammenschluß und Brüderlichkeit ist nicht sowohl eine zufällige Erscheinung in seiner Geschichte als vielmehr das wesentliche Element seiner Eigenart. Das Evangelium will eine Gemeinschaft unter den Menschen stiften, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. Es will, wie man richtig gesagt hat, den Sozialismus, der da auf der Voraussetzung widerstreitender Interessen ruht, umwandeln in den Sozialismus, der sich auf dem Bewußtsein einer geistigen Einheit gründet. In diesem Sinne kann seine soziale Botschaft überhaupt nicht überboten werden. Was ein „menschenwürdiges Dasein“ ist, darüber haben sich im Laufe der Zeiten, Gott sei Dank! die Urteile sehr verändert und verfeinert. Aber auch Jesus kannte diesen Maßstab. Hat er doch einmal, fast mit Bitterkeit, über seine eigene Lage geäußert: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegt.“[WS 3] Die Wohnung, das zureichende tägliche Brot, die Reinlichkeit – alle diese Bedürfnisse werden von ihm gestreift, und er hat ihre Befriedigung für notwendig erachtet für die Bedingung des irdischen Daseins. Kann einer sie sich nicht schaffen, so sollen die andern für ihn eintreten. Deshalb kann darüber kein Zweifel sein, daß Jesus heute auf Seiten derer stehen würde, die sich kräftig bemühen, die schwere Notlage des armen Volkes zu lindern und ihm bessere Bedingungen des Daseins zu schaffen. Der täuschende Satz von dem freien Spielraum der Kräfte, dem „Leben und leben lassen“ – „Leben und sterben lassen“, hieße es besser – läuft dem
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ S. Hatch, Die Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Altertum (deutsch von Harnack, 1883), Schlußausführung.
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 064. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/068&oldid=- (Version vom 30.6.2018)