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Blöße zu decken, gestillt ist. Wir dürfen nicht vergessen, wir befinden uns mit dem Evangelium im Orient und in wirtschaftlich ziemlich unentwickelten Verhältnissen. Jesus ist kein sozialer Reformer gewesen. Er konnte auch einmal den Satz aussprechen: „Arme habt ihr allezeit bei euch“[WS 1], und damit, wie es scheint, andeuten, daß sich die Verhältnisse nicht wesentlich ändern würden. Erbschlichter wollte er nicht sein, und tausend Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens würde er ebenso zu entscheiden abgelehnt haben wie die Zumutung, eine Erbschaftsangelegenheit in Gang zu bringen. Und doch hat man je und je gewagt, aus dem Evangelium ein konkretes soziales Programm abzuleiten. Auch evangelische Theologen haben es versucht und versuchen es noch. Ein Unternehmen, an sich hoffnungslos und gefährlich, aber vollends verwirrend und unerträglich, wenn man die zahlreichen „Lücken“, die man im Evangelium findet, durch alttestamentliche Gesetze und Programme „ergänzt“.

4. Niemals, selbst im Buddhismus nicht, ist eine Religion mit einer so thatkräftigen sozialen Botschaft aufgetreten und hat sich so stark mit ihr identifiziert wie im Evangelium. Inwiefern? Weil mit dem Worte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“[WS 2] hier wirklich Ernst gemacht ist, weil Jesus mit diesem Worte hineingeleuchtet hat in alle konkreten Verhältnisse des Lebens, in die Welt des Hungers, der Armut und des Elendes, endlich weil er jene Maxime als eine religiöse, ja als die religiöse ausgesprochen hat. Ich erinnere Sie nochmals an das Gleichnis vom jüngsten Gericht, in welchem die ganze Frage nach dem Werte und der Zukunft der Menschen von der Übung der Nächstenliebe abhängig gemacht ist; ich erinnere Sie an das andere Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus. Und noch eine Geschichte möchte ich anführen, die wenig bekannt ist, weil sie in dieser Fassung nicht in unsern vier Evangelien, sondern im Hebräerevangelium steht. Dort ist die Erzählung vom reichen Jüngling also überliefert: „Ein Reicher sprach zum Herrn: Meister, was muß ich Gutes thun, damit ich das Leben habe. Er antwortete ihm: Mensch, halte das Gesetz und die Propheten. Jener erwiderte ihm: Das habe ich gethan. Er sprach zu ihm: Gehe hin, verkaufe alles, was du besitzest, und teile es den Armen aus und komm und folge mir. Da fing der Reiche an, sich den Kopf zu kratzen, und die Rede gefiel ihm nicht. Und der Herr sprach zu ihm: Wie kannst Du sagen, ,Ich habe das Gesetz und die Pro-

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh 12,8.
  2. Lev 19,18.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/067&oldid=- (Version vom 30.6.2018)