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Sechste Vorlesung.




Ich habe am Schluß der letzten Vorlesung auf das Problem hingewiesen, welches die „Armen“ im Evangelium bieten. Die Armen, die Jesus in der Regel im Auge hat, sind auch die Empfänglichen, und daher ist das, was von ihnen gesagt wird, nicht ohne weiteres auf Arme überhaupt anzuwenden. Wir müssen daher aus dem Zusammenhang, der uns hier beschäftigt, alle die Sprüche Jesu ausscheiden, die offenkundig auf die „geistliche“ Armut sich beziehen. Hierher gehört z. B. die erste Seligpreisung, mag man sie nun in der Fassung des Lukas oder des Matthäus gelten lassen; denn die ihr zugeordneten Seligpreisungen stellen es sicher, daß Jesus an die innerlich empfänglichen Armen gedacht hat. Aber wir haben nicht die Zeit, alle einzelnen Sprüche durchzugehen; es muß genügen, durch einige Hauptbetrachtungen die wichtigsten Punkte festzustellen.

1. Jesus hat den Besitz irdischer Güter als eine schwere Gefahr für die Seele betrachtet, weil er hartherzig macht, in irdische Sorgen verstrickt und zu gemeinem Wohlleben verführt. Ein Reicher wird schwerlich ins Himmelreich kommen.

2. Die Behauptung, Jesus habe eine allgemeine Verarmung und Verelendung so zu sagen gewünscht, um dann über diesen miserablen Zustand sein Himmelreich heraufzuführen – eine Behauptung, der man in verschiedenen Wendungen begegnet –, ist falsch. Das Gegenteil ist richtig. Er hat Not Not und Übel Übel genannt. Weit entfernt, sie zu begünstigen, hat er das lebendigste und kräftigste Bestreben gehabt, sie zu bekämpfen und zu beseitigen. Sein ganzes Wirken ist auch in diesem Sinne Heilandswirken gewesen,

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/064&oldid=- (Version vom 30.6.2018)