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gern wahr haben wollen, Selbstverleugnung und Entäußerung verlangt hat.

Fassen wir zusammen: Asketisch im prinzipiellen Sinn des Worts ist das Evangelium nicht; denn es ist eine Botschaft von dem Gottvertrauen, der Demut, der Sündenvergebung und der Barmherzigkeit: an diese Höhe reicht nichts anderes heran, und in diesen Ring kann sich nichts anderes eindrängen. Weiter, die irdischen Güter sind nicht des Teufels, sondern Gottes – „Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr dies alles bedürft; er kleidet die Lilien und ernährt die Vögel unter dem Himmel.“[WS 1] Askese hat überhaupt keine Stelle im Evangelium; es verlangt aber einen Kampf, den Kampf gegen den Mammon, die Sorge und die Selbstsucht, und es verlangt und entbindet die Liebe, die da dient und sich opfert. Jener Kampf und diese Liebe sind die „Askese“ im evangelischen Sinn, und wer dem Evangelium Jesu eine andere aufbürdet, der verkennt es. Er verkennt seine Hoheit und seinen Ernst; denn es giebt noch etwas Ernsteres als „seinen Leib brennen lassen und seine Habe den Armen geben“[WS 2], nämlich Selbstverleugnung und Liebe.

2. Das Evangelium und die Armut, oder die soziale Frage.

Dies ist die zweite Beziehung des Evangeliums, welche wir ins Auge fassen wollten, und sie ist mit der ersten nahe verwandt. Auch hier wieder begegnen uns in der Gegenwart verschiedene Anschauungen, bezw. zwei Anschauungen, die sich gegenüber stehen. Die einen sagen uns, das Evangelium sei in der Hauptsache eine große soziale Botschaft für die Armen gewesen, alles andere an ihm sei etwas Sekundäres – zeitgeschichtliche Hüllen, alte Überlieferungen oder Umbildungen durch die ersten Generationen. Jesus sei ein großer sozialer Reformer gewesen, der die in tiefem Elend schmachtenden unteren Stände habe befreien wollen; er habe ein soziales Programm aufgestellt, welches die Gleichheit aller Menschen, die Befreiung aus wirtschaftlicher Not und die Erlösung von Druck und Übel enthalten habe. So allein, fügen sie hinzu, könne man ihn verstehen, und so sei er gewesen, oder vielleicht – weil wir ihn nur so verstehen können, ist er so gewesen. Seit Jahren werden Broschüren und Bücher in diesem Sinne über das Evan-

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Mt 6,26.28.
  2. 1.Kor 13,3.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 056. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/060&oldid=- (Version vom 30.6.2018)