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borgenheit zu entdecken und ihnen ein Wort der Kraft sagen zu dürfen, ist ihm die höchste Freude. Aber auch seine Jünger hat er nicht als einen Mönchsorden organisiert: was sie zu thun und zu lassen haben im Leben des Tages, darüber hat er ihnen keine Vorschriften gegeben. Wer die Evangelien unbefangen liest und nicht Silben sticht, der muß erkennen, daß man diesen freien und lebendigen Geist nicht unter das Joch der Askese gebeugt findet, und daß daher die Worte, die in diese Richtung weisen, nicht versteift und verallgemeinert werden dürfen, sondern in einem weiteren Zusammenhange und von einer höheren Warte zu beurteilen sind.

2. Es ist gewiß, daß die Jünger Jesu ihren Meister nicht als weltflüchtigen Asketen verstanden haben. Wir werden später sehen, welche Opfer sie für das Evangelium gebracht und in welchem Sinne sie auf die Welt verzichtet haben – aber offenbar ist, sie haben nicht asketische Übungen in den Vordergrund gestellt; sie haben die Regel aufrecht erhalten, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei; sie haben ihre Frauen nicht fortgeschickt. Von Petrus wird uns zufällig erzählt, daß ihn sein Weib auf seinen Missionsreisen begleitet hat. Wenn wir von dem Berichte über den Versuch in der Gemeinde zu Jerusalem absehen, eine Art von Kommunismus herzustellen – und wir dürfen ihn bei Seite lassen, da er unzuverlässig ist und der Versuch außerdem nicht asketischen Charakter getragen hat –, so finden wir im apostolischen Zeitalter nichts, was auf eine Gemeinschaft prinzipieller Asketen hindeutet, dagegen überall die Überzeugung als die herrschende, daß man in seinem Beruf und Stand, innerhalb der gegebenen Verhältnisse, ein Christ sein soll. Wie anders ist dem gegenüber von Anfang an im Buddhismus die Entwicklung verlaufen!

3. – das ist das Entscheidende –: ich erinnere Sie an das, was wir in Bezug auf die leitenden Gedanken Jesu ausgeführt haben. In den Ring, der durch Gottvertrauen, Demut, Sündenvergebung und Nächstenliebe bezeichnet ist, kann keine andere Maxime, am wenigsten eine gesetzliche, eingeschoben werden, und er macht es zugleich offenbar, in welchem Sinne das Gottesreich die „Welt“ zu ihrem Gegensatze hat. Wer den Worten: „Sorget nicht“[WS 1], „Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“[WS 2], etc. etwas Asketisches mit dem Anspruch auf gleiche Wertschätzung zuordnet, der versteht den Sinn und die Hoheit dieser

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 6,25.
  2. Lk 6,36.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 053. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/057&oldid=- (Version vom 30.6.2018)