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einbarkeit mit den modernen sittlichen Grundsätzen darzuthun und die Unbrauchbarkeit dieser Religion zu erweisen. Einen[AU 1] eigentümlichen Ausweg, eigentlich ein Produkt der Verzweiflung, haben die katholischen Kirchen gefunden. Sie erkennen, wie bemerkt, den weltverneinenden Charakter des Evangeliums an und lehren dem entsprechend, daß das eigentliche christliche Leben nur in der Form des Mönchtums – das ist die „vita religiosa“ – zum Ausdruck komme; aber sie lassen ein „niederes“ Christentum ohne Askese als „noch ausreichend“ zu. Diese merkwürdige Konzession mag hier auf sich beruhen bleiben: daß die volle Nachfolge Christi nur den Mönchen möglich ist, ist katholische Lehre. Mit ihr hat ein großer Philosoph und noch größerer Schriftsteller unseres Jahrhunderts gemeinsame Sache gemacht: Schopenhauer feiert das Christentum, weil und sofern es große Asketen wie den heiligen Antonius oder den heiligen Franciscus erweckt hat; was darüber hinausliegt in der christlichen Verkündigung, erscheint ihm unbrauchbar und anstößig. In viel tieferer Betrachtung als Schopenhauer und mit einer hinreißenden Kräftigkeit der Empfindung und Macht der Sprache hat Tolstoi die asketischen und weltflüchtigen Züge des Evangeliums ausgehoben und zur Nachachtung zusammengefaßt. Man kann auch nicht verkennen, daß das asketische Ideal, welches er dem Evangelium entnimmt, warm und stark ist und den Dienst am Nächsten einschließt; aber die Weltflucht erscheint auch bei ihm als das Charakteristische. Tausende unserer „Gebildeten“ lassen sich durch seine Erzählungen an- und aufregen; aber im tiefsten Grunde sind sie beruhigt und erfreut, daß das Christentum Weltverneinung bedeutet; denn nun wissen sie bestimmt, daß es sie nichts angeht. Mit Recht sind sie nämlich gewiß, daß ihnen diese Welt gegeben ist, um sich innerhalb ihrer Güter und Ordnungen zu bewähren; verlangt das Christentum etwas anderes, so ist seine Widernatürlichkeit erwiesen. Weiß es diesem Leben keinen Zweck zu setzen, verschiebt es alles auf ein Jenseits, erklärt es die irdischen Güter für unwert und leitet es ausschließlich zur Weltflucht und zu einem beschaulichen Leben an, so beleidigt es alle Thatkräftigen, ja letztlich alle wahrhaftigen Naturen; denn diese sind gewiß, daß uns unsre Fähigkeiten gegeben sind, damit wir sie gebrauchen, und die Erde uns zugewiesen ist, damit wir sie bebauen und beherrschen.

Aber ist das Evangelium nicht wirklich weltverneinend? Es sind sehr bekannte Stellen, auf die man sich beruft und die eine

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Diese Satzgruppe würde ich jetzt so fassen: „Einen eigentümlichen Ausweg, eigentlich ein Produkt der Verzweiflung, haben die katholischen Kirchen gefunden. Sie gestehen zwar einerseits zu, daß das christliche Lebensideal auch innerhalb des weltlichen Lebens (durch Glaube, Liebe und Hoffnung – so die römische Kirche) zu erreichen sei, aber die eigentliche Nachfolge Jesu erkennen sie in der Askese (dem Mönchtum), erblicken nur in ihr die christliche Vollkommenheit und zugleich eine höhere Verdienstlichkeit und einen sicheren Weg zum ewigen Leben. Dadurch aber wird auf das christliche Leben innerhalb der Welt ein schwerer Schatten geworfen, und auch theoretische Aussagen darüber fehlen nicht, das das mönchische Leben nie eigentliche vita christiana sei, das engelgleiche Leben, jenes andere nur ein „niederes“ Leben, ja eigentlich nur ein eben noch zugelassenes.“
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 051. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/055&oldid=- (Version vom 30.6.2018)