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neue Religionsstiftung, als einerseits in Griechenland durch Dichter und Denker, andererseits in Palästina durch die Propheten die Idee der Gerechtigkeit und des gerechten Gottes lebendig wurde und die überlieferte Religion umbildete. Die Götter wurden auf eine höhere Stufe gehoben und versittlicht; der kriegerische und unberechenbare Jehovah wurde zu einem heiligen Wesen, auf dessen Gericht man sich verlassen konnte, wenn auch in Furcht und Zittern. Die beiden großen Gebiete, die Religion und die Moral, bisher getrennt, rückten nahe zusammen; „denn die Gottheit ist heilig und gerecht“. Was sich damals entwickelt hat, ist unsre Geschichte; denn es gäbe überhaupt keine „Menschheit“, keine „Weltgeschichte“ im höheren Sinn ohne jene entscheidende Wandlung. Ihre nächste Folge läßt sich in die Maxime zusammenfassen: „Was ihr nicht wollt, daß euch die Leute thun, das thut ihnen auch nicht.“ Diese Regel, so nüchtern und dürftig sie erscheint, enthält doch eine ungeheure sittigende Kraft, wenn sie auf alle menschlichen Beziehungen ausgedehnt und mit Ernst beobachtet wird.

Aber sie enthält doch nicht das Letzte. Der letzte mögliche und notwendige Fortschritt war erst vollzogen – wiederum eine neue Religionsstiftung! –, als sich die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit unterwerfen mußte, als der Gedanke der Brüderlichkeit und der Aufopferung im Dienste des Nächsten souverän wurde. Die Maxime scheint auch diesmal nüchtern – „Was ihr wollt, das euch die Leute thun, das thut ihnen auch“[WS 1] –, und doch führt sie, richtig verstanden, auf die Höhe und schließt eine neue Sinnesweise und eine neue Beurteilung des eigenen Lebens ein. Der Gedanke: „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen“[WS 2], ist uns mittelbar mit ihr gesetzt und damit eine Umwertung der Werte in der Gewißheit, daß das wahre Leben nicht an diese Spanne Zeit geknüpft ist und nicht am sinnlichen Dasein haftet.

Ich hoffe damit, wenn auch in Kürze, gezeigt zu haben, daß auch in dem Kreise der Gedanken Jesu, der durch die „bessere Gerechtigkeit“[WS 3] und das „neue Gebot der Liebe“[WS 4] bezeichnet ist, das Ganze seiner Lehre enthalten ist. In der That, jene drei Kreise, welche wir unterschieden haben – das Reich Gottes, Gott als der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, die in der Liebe sich darstellende „bessere“ Gerechtigkeit – fallen zusammen; denn das Reich Gottes ist letztlich nichts anderes als der Schatz, den die Seele an dem ewigen und barmherzigen Gott besitzt, und von hier

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 7,12.
  2. Mt 10,39.
  3. Mt 5,20.
  4. Joh 13,34.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 049. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/053&oldid=- (Version vom 30.6.2018)