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Die Betrachtung des Reiches, nach der es im Heilandswirken Jesu bereits gekommen ist und kommt, ist in der Folgezeit von den Jüngern Jesu nicht festgehalten worden: man fuhr vielmehr fort, von dem Reiche als von etwas lediglich Zukünftigem zu sprechen. Aber die Sache blieb in Kraft; man stellte sie nur unter einen anderen Titel. Es ist hier ähnlich gegangen wie mit dem Begriff des „Messias“. Kaum Einer hat sich, wie wir später noch sehen werden, in der Heidenkirche die Bedeutung Jesu dadurch klar gemacht, daß er ihn als „Messias“ faßte. Aber die Sache ist nicht untergegangen.

Das, was den Kern in der Predigt vom Reiche gebildet hat, blieb bestehen. Es handelt sich um ein Dreifaches. Erstlich, daß dieses Reich etwas Überweltliches ist, eine Gabe von Oben, nicht ein Produkt des natürlichen Lebens; zweitens, daß es ein rein religiöses Gut ist – der innere Zusammenschluß mit dem lebendigen Gott; drittens, daß es das Wichtigste, ja das Entscheidende ist, was der Mensch erleben kann, daß es die ganze Sphäre seines Daseins durchdringt und beherrscht, weil die Sünde vergeben und das Elend gebrochen ist.

Dieses Reich, welches zu den Demütigen kommt und sie zu neuen, freudigen Menschen macht, erschließt erst den Sinn und den Zweck des Lebens: so hat es Jesus selbst, so haben es seine Jünger empfunden. Der Sinn des Lebens geht immer nur an einem Überweltlichen auf; denn das Ende des natürlichen Daseins ist der Tod. Ein dem Tode verhaftetes Leben aber ist sinnlos; nur durch Sophismen vermag man sich über diese Thatsache hinwegzutäuschen. Hier aber ist das Reich Gottes, das Ewige, in die Zeit eingetreten. „Das ew’ge Licht geht da herein, giebt der Welt einen neuen Schein“[WS 1]. Das ist Jesu Predigt vom Reiche Gottes. Man kann alles mit ihr in Verbindung setzen, was er sonst verkündigt hat; man vermag seine ganze „Lehre“ als Reichspredigt zu fassen. Aber noch sicherer erkennen wir sie und das Gut, welches er meint, wenn wir uns dem zweiten Kreise zuwenden, den wir in der vorigen Vorlesung bezeichnet haben, um an ihm die Grundzüge der Predigt Jesu fortschreitend kennen zu lernen.

2. Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele.

Unmittelbar und deutlich läßt sich für unser heutiges Vorstellen und Empfinden die Predigt Christi in dem Kreise der Ge-

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Martin Luther, Gelobet seist du Jesu Christ (EG 23,4).
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 040. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/044&oldid=- (Version vom 30.6.2018)