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räumung des Elends, der Not, der Krankheit, an diesem thatsächlichen Wirken soll Johannes spüren, daß eine neue Zeit angebrochen ist. Die Heilung der Besessenen ist nur ein Teil dieser Heilandsthätigkeit; sie selbst aber hat Jesus als Sinn und Siegel seiner Mission bezeichnet. Also an die Elenden, Kranken und Armen hat er sich gerichtet; aber nicht als Moralist und ohne eine Spur weichmütiger Sentimentalität. Er teilt die Übel nicht in Fächer und Gruppen ein; er fragt nicht lange, ob der Kranke die Heilung „verdient“; er ist auch weit entfernt, mit dem Schmerze oder mit dem Tode zu sympathisieren. Er sagt nirgendwo, daß die Krankheit heilsam und das Übel gesund sei. Nein – er nennt Krankheit Krankheit und Gesundheit Gesundheit. Alles Übel, alles Elend ist ihm etwas Fürchterliches; es gehört zum großen Satansreich; aber er fühlt die Kraft des Heilandes in sich. Er weiß, daß ein Fortschritt nur möglich ist, wenn die Schwäche überwunden, die Krankheit geheilt wird.

Aber noch ist nicht das Letzte gesagt. Das Gottesreich kommt, indem er heilt; es kommt vor allem, indem er Sünde vergiebt. Hier erst ist der volle Übergang zum Begriff des Reiches Gottes als der innerlich wirkenden Kraft gegeben. Wie er die Kranken und Armen zu sich ruft, so ruft er auch die Sünder; dieser Ruf ist der entscheidende. „Der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“[WS 1] Nun erst erscheint alles Äußerliche und blos Zukünftige abgestreift: das Individuum wird erlöst, nicht das Volk oder der Staat; neue Menschen sollen werden, und das Gottesreich ist Kraft und Ziel zugleich. Sie suchen den verborgenen Schatz im Acker und finden ihn; sie verkaufen alles und kaufen die köstliche Perle; sie kehren um und werden wie die Kinder, aber eben dadurch sind sie erlöst und werden Gotteskinder, Gotteshelden.

In diesem Zusammenhang hat Jesus von dem Reiche Gottes gesprochen, in welches man mit Gewalt eindringt, und wiederum von dem Reiche Gottes, welches so sicher und so still aufwächst wie ein Samenkorn und Frucht bringt. Es hat die Natur einer geistigen Größe, einer Macht, die in das Innere eingesenkt wird und nur von dem Innern zu erfassen ist. So kann er von diesem Reiche, obgleich es auch im Himmel ist, obgleich es mit dem Gerichtstage Gottes kommen wird, doch sagen: „Es ist nicht hier oder dort; es ist inwendig in euch.“[WS 2]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lk 19,10.
  2. Lk 17,21.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 039. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/043&oldid=- (Version vom 30.6.2018)