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eigenen Buße niemals spricht! Diese Beobachtung schließt es aus, daß sein Leben in inneren Kontrasten verlaufen ist, mag es auch an tiefen Bewegungen, an Versuchungen und Zweifeln nicht gefehlt haben.

Endlich noch eines – das Lebensbild und die Reden Jesu zeigen kein Verhältnis zum Griechentum. Fast muß man sich darüber wundern; denn Galiläa war voll von Griechen, und griechisch wurde damals in vielen seiner Städte gesprochen, etwa wie heute in Finnland schwedisch. Griechische Lehrer und Philosophen gab es daselbst, und es ist kaum denkbar, daß Jesus ihrer Sprache ganz unkundig gewesen ist. Aber daß er irgendwie von ihnen beeinflußt worden, daß die Gedanken Plato’s oder der Stoa, sei es auch nur in irgend welcher populären Umbildung, an ihn gekommen sind, läßt sich schlechterdings nicht behaupten. Freilich, wenn der religiöse Individualismus, Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott, wenn der Subjektivismus, wenn die volle Selbstverantwortlichkeit des einzelnen, wenn die Loslösung des Religiösen von dem Politischen – wenn das alles nur griechisch ist, dann steht auch Jesus in dem Zusammenhang der griechischen Entwicklung, dann hat auch er reine griechische Luft geatmet und aus den Quellen der Griechen getrunken. Aber es läßt sich nicht nachweisen, daß nur auf dieser Linie, nur im Volke der Hellenen, diese Entwicklung stattgefunden hat; das Gegenteil läßt sich vielmehr zeigen: auch andere Nationen sind zu ähnlichen Erkenntnissen und Stimmungen fortgeschritten – fortgeschritten allerdings in der Regel erst, nachdem Alexander der Große die Schlagbäume und Zäune, welche die Völker trennten, niedergerissen hatte. Das griechische Element ist gewiß in der Mehrzahl der Fälle der befreiende und fördernde Faktor auch für sie gewesen. Aber ich glaube nicht, daß der Psalmist, der die Worte gesprochen hat: „Herr, wenn ich nur Dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde“[WS 1] – je etwas von Sokrates oder von Plato gehört hat.

Genug, aus dem Schweigen über die dreißig ersten Jahre Jesu und aus dem, was die Evangelien von der Zeit seiner Berufswirksamkeit nicht berichten, läßt sich Wichtiges lernen.


Er lebte in der Religion, und sie war ihm Atmen in der Furcht Gottes; sein ganzes Leben, all sein Fühlen und Denken, war in das Verhältnis zu Gott aufgenommen, und doch – er hat nicht

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ps 73,25.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 022. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/026&oldid=- (Version vom 30.6.2018)