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eingestellt. Bis dahin gab es keine sichere Einsicht in das, was möglich und unmöglich, was Regel und was Ausnahme sei. Wo darüber aber Unklarheit herrscht, bezw. wo diese Frage überhaupt noch nicht scharf gestellt wird, da giebt es keine Wunder im strengen Sinn des Worts. Eine Durchbrechung des Naturzusammenhangs kann von niemandem empfunden werden, der noch nicht weiß, was Naturzusammenhang ist. So konnten die Mirakel für jene Zeit gar nicht die Bedeutung haben, die sie für uns hätten, wenn es welche gäbe. Für sie waren alle Wunder eigentlich nur außerordentliche Ereignisse, und bildeten sie auch eine Welt für sich, so stand es eben fest, daß diese andere Welt an unzähligen Stellen in die unsrige geheimnisvoll eingreift. Nicht nur Götterboten, sondern auch Magier und Charlatane beherrschen einen Teil der wunderbaren Kräfte. Welche Bedeutung „Wunderthaten“ haben, war daher eine Kontroverse, die nie zur Ruhe kam: bald wertete man sie sehr hoch und verknüpfte sie auch mit dem Kern der Religion, bald sprach man geringschätzig von ihnen.

Zweitens, wir wissen jetzt, daß von hervorragenden Personen Wunder berichtet worden sind nicht erst lange nach ihrem Tode, auch nicht erst nach mehreren Jahren, sondern sofort, oft schon am nächsten Tage. Berichte lediglich deshalb als ganz unbrauchbar zu verwerfen oder in eine spätere Zeit zu rücken, weil sie auch Wundererzählungen enthalten, entspringt einem Vorurteil.

Drittens,[AU 1] wir sind der unerschütterlichen Überzeugung, daß, was in Raum und Zeit geschieht, den allgemeinen Gesetzen der Bewegung unterliegt, daß es also in diesem Sinn, d. h. als Durchbrechung des Naturzusammenhangs, keine Wunder geben kann. Aber wir erkennen auch, daß der religiöse Mensch – wenn ihn wirklich die Religion durchdringt und er nicht nur an die Religion anderer glaubt –, dessen gewiß ist, daß er nicht eingeschlossen ist in einen blinden und brutalen Naturlauf, sondern daß dieser Naturlauf höheren Zwecken dient, bezw. daß man ihm durch eine innere, göttliche Kraft so zu begegnen vermag, daß „alles zum Besten dienen muß“[WS 1]. Diese Erfahrung – ich möchte sie in das Wort zusammenfassen: wir können frei werden von der Macht und vom Dienst des vergänglichen Wesens – wird an den einzelnen Erlebnissen immer wieder wie ein Wunder empfunden werden; sie ist von jeder höheren Religion unabtrennlich: diese würde zusammenstürzen, wenn sie sie aufgäbe. Jene Erfahrung gilt aber ebenso

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Was hier in dem letzten Abschnitt und in dem ersten auf S. 18 (unter „Viertens“) ausgeführt worden ist, ist von einigen lauernden Kritikern so mißverstanden worden, als ließe ich durch die Hintertür doch das Wunder zu. Ich vermag mir das Mißverständnis nicht zu erklären und kann an den Worten nichts ändern.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Röm 8,28.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 017. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/021&oldid=- (Version vom 30.6.2018)