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her spiegeln sich doch auch in ihnen die Verhältnisse der Urgemeinde und die Erfahrungen, die sie in späterer Zeit gemacht hat. Doch ist man heute schneller mit solchen Ausdeutungen bei der Hand als nötig ist. Ferner hat die Überzeugung, daß sich in der Geschichte Jesu die alttestamentliche Weissagung erfüllt habe, trübend auf die Überlieferung gewirkt. Endlich erscheint das wunderbare Element in manchen Erzählungen offenbar gesteigert. Dagegen hat sich die Behauptung von Strauß, die Evangelien enthielten sehr viel „Mythisches“, nicht bewahrheitet, selbst wenn man den sehr unbestimmten und fehlerhaften Begriff des Mythischen, den Strauß in Anwendung bringt, gelten läßt. Fast nur in der Kindheitsgeschichte, und auch da nur spärlich, läßt es sich nachweisen. Alle diese Trübungen reichen nicht bis in das Innerste der Berichte hinein; nicht wenige von ihnen korrigieren sich für den Betrachtenden leicht, teils durch Vergleichung der Evangelien untereinander, teils durch das gesunde, an geschichtlichem Studium gereifte Urteil.

Aber das Wunderbare, alle diese Wunderberichte! Nicht nur Strauß, sondern auch viele andere haben sich durch sie so abschrecken lassen, daß sie ihretwegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien rund verneint haben. Wiederum ist es ein großer Fortschritt, den die geschichtliche Wissenschaft im letzten Menschenalter gemacht hat, daß sie jene Erzählungen verständnisvoller und wohlwollender zu beurteilen gelernt hat und daher auch Wunderberichte als geschichtliche Quellen zu würdigen und zu verwerten vermag. Ich bin es Ihnen und der Sache schuldig, die Stellung, welche die geschichtliche Wissenschaft heute zu jenen Berichten einnimmt, kurz zu präzisieren.

Erstlich, wir wissen, daß die Evangelien aus einer Zeit stammen, in welcher Wunder, man darf sagen, fast etwas Alltägliches waren. Man fühlte und sah sich von Wundern umgeben – keineswegs nur in der Sphäre der Religion. Wir sind heute, abgesehen von einigen Spiritisten, gewohnt, die Wunderfrage ausschließlich mit der Religionsfrage in Beziehung zu setzen. In jener Zeit war es anders. Der Quellen, aus denen Wunder sprudelten, gab es viele. Irgend eine Gottheit wurde allerdings wohl bei jedem als wirksam vermutet – der Gott thut das Mirakel –; aber nicht zu jedem Gott stand man in einem religiösen Verhältnis. Den strengen Begriff ferner, den wir mit dem Worte Wunder verbinden, kannte man damals noch nicht; erst mit der Erkenntnis von Naturgesetzen und ihrer Geltung hat er sich

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 016. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/020&oldid=- (Version vom 30.6.2018)