wir hier in der Hauptsache primäre Überlieferung[AU 1] vor uns haben, ist unverkennbar.
Wie fest der Form nach diese Überlieferung war, das bezeugt uns das dritte Evangelium. Es ist, wahrscheinlich in der Zeit Domitian’s,[AU 2] von einem Griechen geschrieben, und in dem zweiten Teile seines Werkes, der Apostelgeschichte, – übrigens schon in der Vorrede zum ersten – beweist er uns, daß ihm die Büchersprache seines Volkes vertraut war, und er ein vortrefflicher Stilist gewesen ist. Aber in der evangelischen Erzählung hat er nicht gewagt, den ihm überlieferten Typus zu verlassen: er erzählt in der Sprache, der Satzverbindung, dem Kolorit, ja in vielem Detail genau so wie Marcus und Matthäus; nur die gröbsten, dem gebildeten Geschmack anstößigen Wendungen und Worte hat er mit schonender Hand korrigiert. Aber noch etwas ist uns in seinem Evangelium bemerkenswert: er versichert im Eingang, daß er „allem genau“ nachgegangen sei und viele Darstellungen eingesehen habe. Prüfen wir ihn aber auf seine Quellen, so finden wir, daß er sich hauptsächlich an das Marcusevangelium und an eine Quelle, die wir auch im Matthäusevangelium wieder finden, gehalten hat. Diese beiden Schriften schienen ihm, dem respektablen Geschichtschreiber, als die vorzüglichsten in der Menge der übrigen. Das bietet eine gute Gewähr für sie. Der Historiker hat diese Überlieferung durch keine andere zu ersetzen für möglich oder für nötig befunden.
Und noch eines – diese Überlieferung ist, abgesehen von der Leidensgeschichte, nahezu ausschließlich galiläisch. Wenn dieser geographische Horizont nicht wirklich der beherrschende in der Geschichte der öffentlichen Wirksamkeit Jesu gewesen wäre, hätte die Überlieferung nicht so berichten können; denn jede stilisierte Geschichtserzählung hätte ihn hauptsächlich in Jerusalem thätig sein lassen. So hat auch das vierte Evangelium erzählt. Daß unsre drei ersten Evangelien von Jerusalem fast ganz absehen, erweckt ein gutes Vorurteil für sie.
Allerdings, gemessen mit dem Maßstab der „Übereinstimmung, Inspiration und Vollständigkeit“, lassen diese Schriften sehr viel zu wünschen übrig, und auch nach einem menschlicheren Maßstab beurteilt, leiden sie an nicht wenigen Unvollkommenheiten. Zwar grobe Eintragungen aus einer späteren Zeit finden sich nicht – es wird immer denkwürdig bleiben, daß wiederum nur das vierte Evangelium Griechen nach Jesus fragen läßt –, aber hin und
Anmerkungen des Autors (1908)
- ↑ „in der Hauptsache primäre Überlieferung“ – aber die primäre Überlieferung ist auch nicht reine Überlieferung, sondern bereits durch das Medium der Glaubensanschauungen und -urteile gegangen. Statt „in der Hauptsache“ ist „in zahlreichen Abschnitten“ zu sagen.
- ↑ „wahrscheinlich in der Zeit Domitians“ – besser: spätestens in der Zeit Domitians.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 015. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/019&oldid=- (Version vom 30.6.2018)