Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/012

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Jesus Christus und seine ersten Jünger haben ebenso in ihrer Zeit gestanden, wie wir in der unsrigen stehen, d. h. sie haben gefühlt, erkannt, geurteilt und gekämpft in dem Horizont und Rahmen ihres Volkes und seines damaligen Zustandes. Sie wären nicht Menschen von Fleisch und Blut, sondern gespenstische Wesen gewesen, wenn es anders wäre. Freilich, siebzehn Jahrhunderte hindurch hat man gemeint, und viele unter uns meinen es noch, der „Menschheit“ Jesu Christi, welche auch sie lehren, sei bereits genügt, wenn man annehme, er habe einen menschlichen Leib und eine menschliche Seele gehabt. Als ob es so etwas ohne individuelle Bestimmtheit gäbe! Ein Mensch sein heißt erstlich, eine so und so bestimmte und damit begrenzte und beschränkte geistige Anlage besitzen, und zweitens, mit dieser Anlage in einem wiederum begrenzten und beschränkten geschichtlichen Zusammenhang stehen. Darüber hinaus giebt es keine „Menschen“. Hieraus folgt aber unmittelbar, daß nichts, schlechterdings nichts, von einem Menschen gedacht, gesprochen und gethan werden kann ohne die Koeffizienten seiner eigentümlichen Anlage und Zeit. Mag auch ein einzelnes Wort wahrhaft klassisch und für alle Zeiten gültig erscheinen – schon in der Sprache liegt eine sehr fühlbare Beschränkung. Noch viel weniger aber vermag sich die Totalität einer geistigen Persönlichkeit so zur Darstellung zu bringen, daß man die Schranken, und mit ihnen das Fremdartige oder das Konventionelle, nicht empfindet, und diese Empfindung muß sich notwendig steigern, je weiter der Betrachtende zeitlich entfernt steht.

Für den Historiker, der das Wertvolle und Bleibende festzustellen hat – und das ist seine höchste Aufgabe – ergiebt sich aus diesen Verhältnissen die notwendige Forderung, sich nicht an Worte zu klammern, sondern das Wesentliche zu ermitteln. Der „ganze“ Christus, das „ganze“ Evangelium, wenn man unter dieser Devise das äußere Bild in allen seinen Zügen versieht und zur Nachachtung aufstellt, sind ebenso schlimme und täuschende Schlagworte wie der „ganze“ Luther u. a. Schlimm sind sie, weil sie knechten, und täuschend sind sie, weil selbst die, die sie ausgeben, nicht daran denken, mit ihnen Ernst zu machen, und versuchten sie es, sie vermöchten es nicht. Sie vermögen es nicht, weil sie nicht aufhören können als Kinder ihrer Zeit zu empfinden, zu erkennen und zu urteilen.

Es sind hier nur zwei Möglichkeiten: entweder das Evan-

Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/012&oldid=- (Version vom 30.6.2018)