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Religion zu finden, und nach ihm die christliche zu bestimmen versuchen. Allein wir sind mit Recht skeptisch geworden in Bezug auf dieses Verfahren. Latet dolus in generalibus! Wir wissen heute, daß Leben sich nicht durch Allgemeinbegriffe umspannen läßt, und daß es keinen Religionsbegriff giebt, zu welchem sich die wirklichen Religionen einfach wie die Spezies verhalten. Ja man kann sogar fragen: giebt es überhaupt einen gemeinsamen Begriff „Religion“? Ist das Gemeinsame vielleicht nur eine unbestimmte Anlage? Bezeichnet etwa das Wort nur einen leeren Fleck in unserem Innern, den jeder anders ausfüllt und mancher gar nicht bemerkt? Ich bin nicht dieser Meinung, bin vielmehr überzeugt, daß es hier im Tiefsten etwas Gemeinsames giebt, was sich aus der Zerspaltung und der Dumpfheit im Laufe der Geschichte zur Einheit und Klarheit emporgerungen hat. Ich bin der Überzeugung, daß Augustin recht hat, wenn er sagt: „Du, Herr, hast uns auf Dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir.“[WS 1] Aber dieses nachzuweisen und auf dem Wege psychologischer und völkerpsychologischer Untersuchung das Wesen und das Recht der Religion darzustellen, soll nicht unsre Aufgabe sein. Es bleibt bei dem rein geschichtlichen Thema: Was ist christliche Religion?

Wo haben wir den Stoff zu suchen? Die Antwort erscheint einfach und zugleich erschöpfend: Jesus Christus und sein Evangelium.[AU 1]Allein so gewiß dies nicht nur den Ausgangspunkt, sondern auch den hauptsächlichen Inhalt für unsere Untersuchung bietet, so wenig dürfen wir uns damit begnügen, lediglich das Bild Jesu Christi und die Grundzüge seines Evangeliums darzustellen. Wir dürfen es deshalb nicht, weil jede große, wirksame Persönlichkeit einen Teil ihres Wesens erst in denen offenbart, auf die sie wirkt. Ja man darf sagen, je gewaltiger eine Persönlichkeit ist und je mehr sie in das innere Leben anderer eingreift, um so weniger läßt sich die Totalität ihres Wesens nur an ihren eigenen Worten und Thaten erkennen. Man muß den Reflex und die Wirkungen ins Auge fassen, die sie in denen gefunden hat, deren Führer und Herr sie geworden ist. Deshalb ist es unmöglich, eine vollständige Antwort auf die Frage: was ist christlich? zu gewinnen, wenn man sich lediglich auf die Predigt Jesu Christi beschränkt. Wir müssen die erste Generation seiner Jünger – die, die mit

Anmerkung des Autors (1908)

  1. „Jesus Christus und sein Evangelium.“ – Das Evangelium Jesu Christi ist nach Matth. 5,1ff. einerseits, nach Matth. 11,5.28f. und Luk. 4,18-21 andrerseits zu verstehen (vgl. S. 32 und 38f. dieses Werkes). Von diesem Evangelium ist das Evangelium von Jesus Christus, d. h. von dem Christus, der gestorben und auferstanden ist (so schon Mark. 1,1ff. und das ganze Buch), zu unterscheiden. Beide Evangelien sind in der Kirchengeschichte nebeneinander hergegangen. An unserer Stelle und im folgenden ist das erste gemeint.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Augustinus, Confessiones I,1.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 006. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/010&oldid=- (Version vom 10.4.2021)