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Menschen einer neuen Offenbarung sich entgegensehnt und entgegenarbeitet oder aber heimatlos, wie eine Seele ohne Körper, ihre irdische Organisation sucht – in einer solchen Zeit kleidet es sich versuchs- und übergangsweise in manche sehr seltsame Formen des Aberglaubens und des Fanatismus. Der höhere Enthusiasmus der menschlichen Natur ist für eine Zeit lang ohne einen Exponenten, und doch bleibt er unzerstörbar, unermüdlich thätig und arbeitet blind in der großen chaotischen Tiefe. So entsteht eine Sekte nach der anderen und eine Kirche nach der anderen und zergeht wieder in eine neue Metamorphose.“

Wer unsre Zeit kennt, der wird urteilen, daß diese Worte lauten, als wären sie heute niedergeschrieben. Aber in diesen Vorlesungen wollen wir uns nicht um das „religiöse Prinzip“ bemühen und seine Evolutionen, sondern die bescheidenere, aber nicht minderdringliche Frage wollen wir zu beantworten suchen: was ist Christentum? was ist es gewesen, was ist es geworden? Wir hoffen, daß aus der Beantwortung dieser Frage ungesucht auch ein Licht auf jene umfassendere fallen wird: was ist Religion, und was soll sie uns sein? Haben wir es doch in ihr schließlich nur mit der christlichen zu thun; die anderen bewegen uns im Tiefsten nicht mehr.


Was ist Christentum? – lediglich im historischen Sinn wollen wir diese Frage hier zu beantworten versuchen, d. h. mit den Mitteln der geschichtlichen Wissenschaft und mit der Lebenserfahrung, die aus erlebter Geschichte erworben ist. Damit ist die apologetische und die religionsphilosophische Betrachtung ausgeschlossen. Gestatten Sie mir hierüber einige Worte.

Die Apologetik hat in der Religionswissenschaft ihren notwendigen Platz, und es ist eine würdige und große Aufgabe, den Nachweis des Rechtes der christlichen Religion zu führen und ihre Bedeutung für das sittliche und intellektuelle Leben ans Licht zu stellen. Aber diese Aufgabe darf man nicht mit der rein geschichtlichen Frage nach dem Wesen dieser Religion vermengen, sonst bringt man die geschichtliche Forschung um jeglichen Kredit. Dazu kommt, daß wir für die Apologetik, wie wir sie heute brauchen, noch kein wahrhaft großes Muster besitzen. Einige Ansätze zum Besseren abgerechnet, befindet sich diese Disziplin in einem traurigen Zustande: sie ist sich nicht klar darüber, was sie verteidigen soll,

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/008&oldid=- (Version vom 30.6.2018)