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skripten mühsam zu entwickeln! Wer so spricht, hat nicht unrecht, aber doch nicht recht. Was wir sind und haben – im höheren Sinn –, haben wir aus der Geschichte und an der Geschichte, freilich nur an dem, was eine Folge in ihr gehabt hat und bis heute nachwirkt. Davon aber eine reine Erkenntnis zu gewinnen, ist nicht nur Sache und Aufgabe des Historikers, sondern eines jeden, der den Reichtum und die Kräfte des Gewonnenen selbständig in sich aufnehmen will. Daß aber das Evangelium hierher gehört und durch nichts anderes ersetzt werden kann, haben die tiefsten Geister immer wieder ausgesprochen. „Mag die geistige Kultur nur immer fortschreiten, der menschliche Geist sich erweitern, wie er will; über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“ In diesen Worten hat Goethe nach vielen Versuchen und in unermüdlicher Arbeit an sich selbst das Ergebnis seiner sittlichen und geschichtlichen Einsicht zusammengefaßt. Spräche auch der eigene Wunsch in uns nicht, so wird es sich doch schon um des Zeugnisses dieses Mannes willen lohnen, dem ein ernstes Nachdenken zu widmen, was ihm als so wertvoll aufgegangen ist; und wenn im Gegensatz zu seinem Bekenntnis heute Stimmen lauter und zuversichtlicher ertönen, welche verkündigen, die christliche Religion habe sich überlebt, so soll uns das eine Aufforderung sein, sie, deren Totenschein man bereits ausstellen zu können glaubt, näher kennen zu lernen.

In Wahrheit aber ist heute diese Religion und das Bemühen um sie lebendiger als früher. Wir dürfen es unserer Zeit zu Lobe nachsagen, daß sie sich ernstlich mit der Frage nach dem Wesen und Wert des Christentums beschäftigt, und daß heute mehr Suchens und Fragens ist als vor dreißig Jahren. Auch in dem Tasten und Experimentieren, in den seltsamen und abstrusen Antworten, in den Karikaturen und dem chaotischen Durcheinander, ja selbst in dem Hasse ist doch wirkliches Leben und ein ernsthaftes Ringen zu spüren. Nur sollen wir nicht glauben, daß dieses Ringen exemplarisch ist und wir die Ersten sind, die sich nach Abschüttelung der autoritativen Religion um eine wahrhaft befreiende und eigenwüchsige bemühen, wobei denn viel Verworrenes und Halbwahres auftauchen muß. Vor 62 Jahren schrieb Carlyle: „In diesen zerfahrenen Zeiten, wo das religiöse Prinzip nach seiner Vertreibung aus den meisten Kirchen entweder ungesehen in den Herzen guter

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 003. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/007&oldid=- (Version vom 30.6.2018)