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höhere Entwicklungsstufe des Judentums aufgefaßt werden müsse; auch sie meinen, damit etwas sehr Tiefes ausgesprochen zu haben. Wieder andere behaupten umgekehrt, das Jüdische sei von dem Evangelium abgethan worden, dieses selbst aber sei unter geheimnisvoll wirkenden griechischen Einflüssen entstanden und sei als eine Blüte am Baum des Hellenismus zu begreifen. Religionsphilosophen treten auf und erklären, die Metaphysik, die sich aus dem Evangelium entwickelt habe, sei sein eigentlicher Kern und die Enthüllung seines Geheimnisses; aber andere antworten ihnen, das Evangelium habe gar nichts mit der Philosophie zu schaffen, sondern sei der empfindenden und leidenden Menschheit gebracht; die Philosophie sei ihm nur aufgedrängt worden. Endlich treten die Allerneusten auf den Plan und versichern uns, Religions-, Sitten-, Philosophiegeschichte seien überhaupt nur Hülle und Aufputz; hinter ihnen liege zu allen Zeiten die Wirtschaftsgeschichte als das allein Wirkliche und Treibende; so sei auch das Christentum ursprünglich nichts anderes als eine soziale Bewegung und Christus ein sozialer Erlöser, der Erlöser der schmachtenden unteren Klassen, gewesen.

Es hat etwas Rührendes, zu sehen, wie jeder mit seinem eigenen Standpunkt und Interessenkreise sich in diesem Jesus Christus wiederfinden oder doch einen Anteil an ihm gewinnen will – es wiederholt sich hier stets aufs neue das Schauspiel, welches schon das zweite Jahrhundert im „Gnosticismus“ bot, und welches sich als ein Kampf aller denkbaren Richtungen um den Besitz Jesu Christi darstellt. Sind uns doch jüngst nicht etwa nur Tolstoi’s, sondern sogar Nietzsche’s Ideen in ihrer besonderen Verwandtschaft mit dem Evangelium vorgeführt worden, und vielleicht läßt sich selbst darüber Beachtenswerteres sagen als über den Zusammenhang so mancher „theologischen“ und „philosophischen“ Spekulation mit der Predigt Christi.

Aber alles in allem genommen, ist doch der Eindruck, den man aus diesen widersprechenden Urteilen gewinnt, ein niederschlagender: die Verwirrung scheint hoffnungslos. Wem kann man es da verdenken, wenn er, nach einigen Versuchen, sich zu orientieren, die Sache aufgiebt? Und vielleicht fügt er noch hinzu, daß im Grunde die Frage doch eine gleichgültige sei. Was geht uns eine Geschichte, was geht uns eine Person an, die vor neunzehnhundert Jahren gelebt hat? Unsere Ideale und Kräfte müssen präsent sein; es ist barock, es ist aussichtslos, sie aus alten Manu-

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/006&oldid=- (Version vom 30.6.2018)