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28 gedenke nicht derer, die vor dir mit Trug gewandelt,
sondern halt im Gedächtnis, die sich um deinen Dienst von Herzen gekümmert;
29 richte die nicht zu Grunde, die wie das Vieh dahingelebt[1],
sondern nimm dich derer an, die dein Gesetz lauter gelehrt;
30 zürne nicht denen, die schlimmer als Tiere erachtet sind,
sondern beweise denen deine Liebe, die allezeit deiner Herrlichkeit vertraut[2]. —

31 Denn wir und unsere Väter haben in Werken des Todes dahingelebt[3], du aber bist gerade, weil wir Sünder sind, der Barmherzige genannt. 32 Denn gerade weil wir nicht Werke der Gerechtigkeit haben, wirst du, wenn du einwilligst[4], uns zu begnadigen, der ’Gnädige‘[5] heißen. 33 Denn die Gerechten, denen viele Werke bei dir bewahrt sind, werden aus eigenen Werken den Lohn empfangen. —

34 Was ist ’aber‘[6] der Mensch, daß du ihm zürnen solltest,
was das sterbliche Geschlecht, daß du ihm so grollen könntest?

35 Denn in Wahrheit

niemand ist der Weibgeborenen, der nicht gesündigt[7],
niemand der ’Lebenden‘[8], der nicht gefehlt.

36 Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und Güte, Herr, offenbar, daß du dich derer erbarmst, die keinen Schatz[9] von guten Werken haben[10].

37 Er antwortete mir und sprach: Manches hast du richtig gesagt, und es soll geschehen, wie du gesprochen[11]. 38 Denn wirklich will ich mich nicht kümmern um das, was die Sünder sich bereitet haben, um Tod, Gericht und Verderben, 39 sondern vielmehr will ich mich an dem erfreuen, was die Gerechten sich erworben, an ’Heimkehr‘[12], Erlösung und Lohnempfang. 40 Also wie ’du‘[13] gesprochen hast, so ist es.

Der Mensch gleicht dem Samen des Landmanns.

41 Denn wie der Landmann vielen Samen auf die Erde sät und eine Menge Pflanzen pflanzt, aber nicht alles Gesäte zur Zeit[14] bewahrt bleibt und nicht[15] alles Gepflanzte Wurzel schlägt, so werden auch die, die in der Welt gesät sind, nicht alle bewahrt bleiben.

42 Ich antwortete und sprach: Wenn ich Gnade vor dir gefunden, so laß mich reden! 43 Der Same des Landmanns, wenn er deinen Regen nicht zur rechten Zeit bekommen hat und also nicht aufgegangen ist[16], oder wenn er durch zu viel Regen verdorben ist, 44 geht freilich so


  1. Ohne Vernunft, ohne den Gedanken an ein kommendes Gericht; vgl. 7,65f.
  2. Die Worte 26-30 wollen besagen: erbarme dich, o Gott, der Welt und Israels, um der wenigen Gerechten willen!
  3. διηγάγομεν Hilg.
  4. Etwa hebr. אבה; Syr. אן תצבא.
  5. Lat M (misericors — miserator) Ar¹ Arm haben Wechsel im Ausdruck.
  6. Verwechselung von enim und autem (Bensly S. 58).
  7. Vgl. Apoc. Esdrae (ed. Tischendotf) S. 30: καὶ τίς ἄρα ἄνθρωπος γεννηθεῖς οὐχ ἥμαρτε;
  8. Lat M eorum, qui increverunt, Syr (Ar¹) ex iis qui fuerunt, für Lat confidentibus lese man confientibus = συνεστηκότων.
  9. substantia = ὑπόστασις; vgl. Ap. Bar. 14,12.
  10. Der Passus erinnert an die paulinische Lehre von der Gerechtigkeit aus Gnade und der Gerechtigkeit aus guten Werken. — Vgl. Ap. Esdrae (ed. Tischendorf) S. 25: οὕτως καὶ ὁ δίκαιος ἀπέλαβεν τὸν μισθὸν αὐτοῦ ἐν οὐρανοῖς. ἀλλὰ τοὺς ἁμαρτωλοὺς ἐλέησον· οἴδαμεν γὰρ ὅτι ἑλεήμων εἶ.
  11. Der Engel meint das Gebet des Εsra, Gott möge an die Gerechten und nicht an die Sünder denken. Diese Worte sind Wahrheit, aber freilich in ganz anderem Sinne, als Εsra gemeint hat! Eine ähnliche geistreiche Umkehrung der Worte Esras durch den Engel findet sich 7,64.71f.
  12. Lat peregrinationis, Syr adventus, Ar¹ appropinquatio; entgegensteht V. 38 „Tod“; Volkmar ἀποδημία Fortwanderung (aus der Welt zu Gott); vgl. 2 Kor. 5,6ff.
  13. Aeth et ut loqueris.
  14. Wo es aufsprießen sollte.
  15. Vgl. Syr neque omnes plantae; ebenso Aeth Ar¹ Lat C M.
  16. ἀνατέλλειν (Hilg.).
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/51&oldid=- (Version vom 30.6.2018)