Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
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56 Ich sprach: Ach Herr, wenn ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, so zeige deinem Knecht, durch wen du deine Schöpfung heimsuchen wirst. 6 1 Er sprach zu mir: Im Anfange der Welt[1],
ehe der Winde ’Stöße‘[3] bliesen;
2 ehe der Donner Schall ertönte,
ehe der Blitze Leuchten strahlte;
ehe die Grundlagen des Paradieses gelegt,
3 ehe ’die Schönheit seiner Blumen‘[4] zu schauen war;
ehe die Mächte der Bewegung[5] bestellt[6],
ehe die zahllosen Heere[7] der Engel gesammelt;
4 ehe die Höhen der Lüfte sich erhoben,
ehe die ’Räume‘[8] des Himmels Namen trugen[9];
ehe Zions Schemel[10] bestimmt war[11],
5 ehe die Jahre der Gegenwart[12] berechnet;
ehe die Anschläge der Sünder verworfen[13],
6 damals habe ich dies alles vorbedacht[15], und durch mich und niemand weiter ward es erschaffen; so auch das Ende[16] durch mich und niemand weiter[17]!
7 Ich antwortete und sprach: Wie wird die Scheidung der Zeiten geschehen? wann wird das Ende des ersten Äon sein und der Anfang des zweiten? 8 Er sprach zu mir:
- ↑ Die folgende wundervolle Schilderung der Welt vor der Schöpfung geht wohl auf vorhandene poetische Traditionen zurück, die ihren letzten Ursprung in Weltschöpfungsmythen haben; vgl. Spr. 8,24-29 (Ps. 90,2) und die babylonischen Schöpfungsepen (Gunkel, Schöpfung und Chaos, S. 401 u. bes. S. 419).
- ↑ αἰών = Himmel; vgl. 3,18. 8,20. Thore des Himmels werden auch Äth. Henoch 34ff. mit den Winden zusammen genannt.
- ↑ Lies convectiones = συμφοράς.
- ↑ Syr (Aeth Ar¹) decor florum. Die Blumen sind die des Paradieses. Die Blumen des (himmlischen) Gottesgartens sind urspr. die Sterne.
- ↑ Das sind αἱ δυνάμεις τῶν οὐρανῶν Matth. 24,29, d. h. Engelmächte, die die Himmel und die Sterne bewegen. Diese „Mächte“ sind urspr. heidnische Sterngottheiten, bei den Juden zu Engeln herabgedrückt; vgl. Äth. Henoch 80,7.
- ↑ Zum Ausdruck τάσσεσθαι vgl. Röm 13,1. — Diese festgestellte Ordnung der Sternbewegungen spielt im Judentum eine große Rolle; vgl. Äth. Henoch 72ff. u. a.
- ↑ militiae = στρατιαί Hilg.
- ↑ μέτρα, solche Namen werden genannt Slav. Henoch 21,6ff.
- ↑ Ganz ähnlich beginnt das große babylonische Schöpfungsgedicht: „Einst als droben der Himmel nicht benannt war.
- ↑ Für Gottes Füße Ps. 99,5. 132,7. 1 Chr. 28,2.
- ↑ Lat destinaretur.
- ↑ ἐνεστώς nach Ar² (Gildemeister).
- ↑ D. h. von Gott verstoßen, vereitelt waren. — Es ist ein wundervoller Trost, zu wissen, daß Gott vor Anbeginn der Welt der Zeit ihre Grenzen gesetzt, der Sünde Maß bestimmt und den Frommen Verschonung zugesichert hat: keine Ereignisse dieser Zeit mögen das ungiltig machen, was vor aller Zeit durch Gottes Rat festgesetzt worden ist.
- ↑ Offenb. Joh. 7,2f.
- ↑ Die Schöpfung durch den Gedanken ist eine höhere Auffassung als die durch das Wort.
- ↑ Diese Schlußfolgerung setzt den allgemeinen Satz voraus, daß das Ende werden wird, wie der Anfang gewesen ist; Urzeit = Endzeit: τὰ ἔσχατα ὡς τὰ πρῶτα Barn. 6,13. Dies ist eins der Fundamentaldogmen der jüd.-christl. Eschatologie.
- ↑ Der Schlußsatz des Lat (ut et finis per me et non per alium) = ὡς καὶ τὸ τέλος (od. ἡ τελευτή) δι’ ἄλλου (v. Wilamowitz) ist in Syr Aeth Ar¹.² aus (christlichen) Bedenken ausgelassen. — Der obige Abschnitt polemisiert gegen die Christologie der neutest. Spekulation oder einer verwandten jüdischen Richtung. — Nach der Meinung des Verfassers soll in den obigen Worten nicht das Kommen des Christus überhaupt geleugnet werden; der Verfasser will nur das leugnen, daß das Ende selbst (das jüngste Gericht) durch Christus geschehen werde.
- ↑ Hier und im Folgenden der Ton des nur leise zu lüftenden, halb verschleierten Geheimnisses. Eine Allegorie ist Gal 4,21-31.
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/34&oldid=- (Version vom 30.6.2018)