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Siebenzahl der Visionen zerstört. — Ferner hat Kabisch, Das vierte Buch Esra (1889), das ganze Buch in 4 Quellen zerschnitten. Besprechungen dieses Versuchs findet man Theol. Lit.-Zeit. 1891, Sp. 5—11 (von Gunkel), und Theol. Stud. u. Krit. 1898, S. 287-245 (von Clemen). Kabisch hat die Stoffmassen des Buchs im Allgemeinen richtig unterschieden und einzelne gute Beobachtungen gemacht; seine Auffassung aber, daß das Buch durch einen ganz elenden Redaktor zusammengeschustert worden sei, ist eine Mißhandlung der schönen Schrift. Diese Hypothese haben im Wesentlichen acceptiert de Faye a. a. O., S. 85, A. 1, S. 103 A. 1, S. 156 u. a., und Charles, Apocalypse of Baruch (1896), S. LXVIIf. Alle derartigen Operationen werden stets an dem sehr stark hervortretenden, einheitlichen Kolorit des ganzen Werkes scheitern.

Wohl begreiflich ist, daß eine so bedeutende Schrift wie IV Esra auf die Zeitgenossen und die späteren Leser großen Eindruck und in der Litteratur Schule gemacht hat. Die Apokalypse des Baruch stimmt mit IV Esra in der Situation, in Stimmung und Zweck, im ganzen Aufriß (auch hier sind die größeren Abschnitte durch kleine Erzählungsstücke von einander abgegrenzt, auch hier Reden und Visionen, auch hier der Wechsel der Fragen des Propheten und der Antworten des Engels), in vielen Gedanken und Stoffen und häufig auch im Wortlaute (vgl. Langen, Commentatio qua apocalypsis Baruch illustratur [1867], S. 6ff.) so sehr überein, daß beide Schriftsteller nicht nur Zeitgenossen sein, sondern auch in einer litterarischen Beziehung zu einander stehen müssen. Die Forscher sind über die Frage, ob IV Esra von der Baruchapokalypse oder umgekehrt die Baruchapokalypse von IV Esra abhängt, verschiedener Ansicht (Litteratur bei Schürer³ III, 227ff. und Clemen a. a. O., S. 236; neuerdings ist Wellhausen, Skizzen VI, S. 248, für die Priorität der Baruchapokalypse eingetreten; die „zeitgeschichtliche“ Deutung der Zeichen Ap. Bar. 48,34-37, auf die er sich besonders stützt, und die er auf die Ereignisse des jüd. Krieges bezieht, ist geistreich, aber wie ähnliche solche Deutungen ganz unbeweisbar; derartige Erwartungen finden sich auch sonst und brauchen durchaus nicht irgend einen zeitgeschichtlichen Hintergrund zu haben). Die Frage nach der Priorität beider Schriften ist, wie mir scheint, aus dem Stile zu beantworten. Dieselben Gedanken, die IV Esra in wohlüberlegter Ordnung, in schöner, aus der Sache folgender Steigerung giebt, findet man in der Baruchapokalypse wirr und kraus durcheinander. So beklagt der Verfasser dieser Apokalypse schon 14,12ff. die Sünder, weil sie die zukünftige Welt nicht ererben, aber erst in K. 41 wirft er die Frage auf, wer denn jener Welt teilhaftig werde. Schon in 19,5 ist ihm die Nähe des Endes offenbart worden, aber im unmittelbar Folgenden bringt er noch ein dringendes Gebet, Gott möge das Ende bald heraufführen (21,19ff.); in beiden Fällen hätte die Natur der Gedanken die umgekehrte Anordnung verlangt. Auch im Einzelnen ist die Baruchapokalypse oft ziemlich konfus; man vergleiche K. 48,1-24 und bes. K. 14, wo der Verfasser eine ganze Menge verschiedenartiger Gedanken zusammenstellt. Diese schlechte Anordnung beweist, daß der Verfasser nicht Herr und Schöpfer seiner Gedanken ist. Wie wenig tief er die Fragen genommen hat, erkennt man an Beispielen wie 14,8ff. 15.48,46b, wo Baruch selber aus eigenen Kräften die Antworten giebt, die bei IV Esra nur ein Engel geben kann: woran sich IV Esra zermartert, das giebt die Baruchapokalypse als Binsenwahrheit. So zweifle ich nicht, daß der Verfasser des IV Esra ein selbständiger Denker ist, der seine Gedanken nicht aus einer tief unter ihm stehenden Schrift zu borgen braucht, während mir die Baruchapokalypse als Typus eines Schriftstellers erscheint, der den Empfang eines guten Buchs dadurch quittiert, daß er eine mäßige Nachahmung hinzuliefert. Natürlich hat die Baruchapokalypse nicht nur IV Esra benutzt, sondern schöpft wie dieser zugleich aus der apokalyptischen Tradition; vgl. z. B. Ap. Bar. 29,4, IV Esra 6,52. Überlieferungen, die sich nicht im IV Esra finden, treten in der Baruchapokalypse hervor bei den 12 Zeiten (27), beim Gesicht über die Quelle (36f.), beim Wolkengesicht (53) u. a. m. Dem Geiste nach erscheint die Baruchapokalypse trivialer; viel schärfer treten darin hervor die Gesetzlichkeit und der Durst nach Rache an dem verderblichen Rom.

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/21&oldid=- (Version vom 30.6.2018)