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dieser Welt dennoch in Gottes Händen ist. Diesen Umschwung vom Schmerz zur Freude hat der Verfasser äußerlich dadurch gekennzeichnet, daß Esra vor den drei ersten Gesichten fasten muß (5,20. 6,35), daß ihm aber am Anfange des vierten Gesichts das Essen von Pflanzen befohlen wird (9,23-25. 12,51).

Ob und wie weit der Verfasser den apokalyptischen Stoff dem Inhalte nach umgebildet habe, ist schwer zu sagen, doch pflegen die Apokalyptiker in der Wiedergabe der Traditionen sehr treu zu sein. Im Allgemeinen wird man die Eigenart unseres Verfassers bei Weitem sicherer aus den ersten Visionen erkennen, in denen er verhältnismäßig frei schaffen und Eigenstes geben konnte, als in den späteren, wo er an die Tradition gebunden war. Wenn er also in den letzten beiden Visionen die volkstümlichen politischen, von den Propheten ererbten Erwartungen im Wesentlichen hat stehen lassen, so liegt doch auf ihnen nicht der eigentliche Accent; vielmehr zeigen die meisten Reflexionen der ersten drei Visionen, daß er selbst für seine Person mehr auf seiten der transcendenten und zugleich individualistischen Hoffnungen des späteren Judentums steht. Er hat Beides so verbunden, daß er die überirdischen Hoffnungen als das Eigentliche, Definitive hinstellt, die irdischen aber als Zwischenakt gelten lassen will, auch hierin einer bereits vorhandenen Tradition folgend (7,29). So wird 12,34, wonach auch das Reich des Christus schließlich sein Ende nimmt, ein Zusatz von seiner Hand sein. Auch in dieser Beziehung hat sich die moderne Forschung vielfach an IV Esra versündigt, indem sie in seinem Buche den eschatologisch-politisch-zeitgeschichtlichen Stoff viel zu sehr hervorgehoben und die tiefen Probleme des Verfassers viel zu sehr und manchmal ganz übersehen hat; vgl. z. B. Dillmann, PRE² XII, S. 354ff.

Der Verfasser hat nach Sitte der Apokalyptik diese Offenbarungen, die er selbst (und, was das apokalyptische Material anlangt, gewiß mit Recht) für sehr alte Traditionen hielt, einer alten Autorität in den Mund gelegt. Er wählte einen Mann, der in ähnlicher Situation wie er selbst, unter dem Eindruck einer großen Katastrophe des Volks, selbst fern von Zion, ähnliche Gedanken gedacht haben muß, den Sealtiel, den Vater des Serubabel, den er wohl als Führer Israels im Exil betrachtete, wie Serubabel es nach dem Exil gewesen ist; er identifizierte mit starkem Verstoß wider die Chronologie diesen sonst unbekannten Sealtiel mit dem Schriftgelehrten Esra.

An das Ende seines Buchs hat er, um einen ästhetisch gefälligen Abschluß zu gewinnen, noch die Legende von Esra gestellt. Diese Erzählung von Esras Wiederherstellung der heiligen Schriften, eine Erzählung, die im letzten Grunde mit slav. Henoch 23,4-6 identisch ist, wird ihre wohl uralte Vorgeschichte haben, ebenso wie der Titel Esras „Schreiber der Wissenschaft des Höchsten“; vgl. meinen Aufsatz über den „Schreiberengel Nabû“, Archiv für Religionswiss. 1898, S. 299. Diese Legende ist bei den Kirchenvätern hochberühmt und scheint ihnen nicht nur aus unserem Buche, sondern zugleich noch aus selbständiger Tradition bekannt gewesen zu sein; vgl. die Citate bei Bensly-James, S. XXXVIIf. Der Verfasser hat auch diese Erzählung mit Reden und Gebeten geschmückt; in dem feierlichen Schluß 14,49f. klingt das Buch würdig aus.

Das ganze Werk ist, wie die Übersicht zeigt, überaus reich an mannigfaltigem Material, fast ein Kompendium eschatologischer Gedankenwelt zu nennen. Ein Teil der Anmerkungen unter dem folgenden Text hat den Zweck, in diese Gedanken einzuführen und auf die religionsgeschichtlichen Probleme, die so wenige Theologen zu sehen scheinen, wenigstens hinzuweisen. Nachdem in dieser Einleitung zum IV Esra dem Schriftsteller selbst sein volles Recht geworden ist, wird der Hinweis auf diese Vorgeschichte des Stoffs wohl das Mißverständnis nicht mehr zu befürchten brauchen, als solle die Person des Schriftstellers darüber verdunkelt werden oder in den Hintergrund treten. Das Buch ist die sympathischste unter den Apokalypsen. Das Krasse, Überphantastische, Mythologische, das die meisten Apokalypsen beherrscht tritt hier zurück.

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/18&oldid=- (Version vom 30.6.2018)