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auf einen Berg und vernichtet das anstürmende Heer durch den Feuerhauch seines Mundes. Dann aber versammelt er ein anderes, friedliches Heer um sich. — Die Deutung sagt, der Mensch sei der kommende Welt-Erlöser und -Ordner. Gegen den werden die Völker der Erde ziehen; er aber tritt auf Zion und vernichtet sie durch sein Wort. Dann ruft er die verlorenen zehn Stämme aus dem Lande, wo sie weilen, zu sich; das ist das „friedliche Heer“; zugleich aber sind es auch, die im Gebiete Israels gerettet sind.

Darnach behandeln das fünfte und sechste Gesicht apokalyptische Stoffe. Solche apokalyptischen Bilder stammen selten aus freier Erfindung der Schriftsteller, sondern sind meist aus irgend einer Tradition geschöpft: sie waren gewöhnlich schon vor der uns vorliegenden letzten Niederschrift mehrfach von einer Hand in die andere, in mündlicher oder auch schriftliche Überlieferung, gegangen. Daß dies auch hier der Fall ist, beweist 1. der Umstand, daß wir hier zwei verschiedene Traditionen haben, die im Gesamtaufriß parallel sind (vgl. Kabisch a. a. O., S. 105; beide erzählen von der Vernichtung des letzten Feindes durch den erscheinenden Christus) und auch manche Einzelheiten gemeinsam haben (so das „Schelten“ 11,37-46. 12,32f. und 13,37f.), andererseits aber in Manchem deutlich unterschieden sind (der Messias vernichtet in Visio V das römische Weltreich, in Visio VI die versammelten Völker der Erde er begnadigt in V nur die im Heiligen Lande übriggebliebenen, in VI zunächst die verloren 10 Stämme; im Allgemeinen giebt Visio V eine „zeitgeschichtliche“ Apokalypse, während Visio VI die traditionelle Eschatologie enthält). — 2. Auch sind die eschatologischen Stoffe dieser beiden Visionen von den Hoffnungen, die in den ersten Gesichten mitgeteilt werden, im Gesamtaufriß deutlich unterschieden: während der Verfasser in den ersten Visionen vorwiegend das zukünftige Schicksal der einzelnen Menschen erwägt, handelt es sich hier um politische Erwartungen. — 3. Es fällt auf, daß die Zukunftsbilder auf die große Katastrophe Israels, die soeben geschehen war, und die dem Verfasser, wie die ersten Visionen zeigen, an Herz und Nieren greift, nicht die gebührende fundamentale Rücksicht nehmen. Dies gilt namentlich für Visio VI, wo nichts davon vorkommt. Aber auch in V ist die Beschreibung von Roms Greuelherrschaft sehr allgemein; es fällt (z. B. 11,42) kein Wort von der Verwüstung des Heiligtums. So fehlt auch die Verheißung, daß auch die judäischen Deportierten ins Heilige Land zurückkehren sollen. — 4. Auch die eigentümliche Beschaffenheit des Adlergesichts spricht dafür, daß der Stoff schon vor seiner Wiedergabe durch den Verfasser seine Geschichte gehabt habe. Die Deutung der Stimme aus dem Innern 12,18 ist so gezwungen, daß sie kaum von dem urspr. Verfasser beabsichtigt gewesen sein kann. Der ganze Apparat von 12 Flügeln, 8 Gegenflügeln und 3 Häuptern ist zu kompliziert, als daß man annehmen könnte, er sei so mit einem Male fertig gewesen. Ursprünglich mögen es wohl nur 12 oder gar 3 Könige gewesen sein; dann später, als die alten Größen durch die fortschreitende Geschichte als zu klein erwiesen wurden, mögen neue hinzugefügt worden sein. So urteilt neuerdings Clemen, Stud. u. Krit. 1898, S. 242. Aus der Bemerkung 12,37, die in den Zusammenhang des IV Esra nicht recht paßt, ist vielleicht zu schließen, daß diese Vision dem Verfasser bereits in schriftlicher Form vorgelegen hat. Doch scheint der Verfasser seine Vorlage so selbständig verarbeitet zu haben, daß man auf eine genaue Herausschälung verzichten muß. So ist auch der Versuch Wellhausens, Skizzen VI, S. 241ff., durch Entfernung von 11,11, von et duo pennacula 22, ferner von 24. 12,2.3a anstatt der 8 Unterflügel 6 Unterflügel zu gewinnen, gescheitert; besonders ist seine Exegese von 11,26-28, wonach der ursprüngliche Verfasser bald die Flügelpaare, bald die Flügel gezählt haben müßte, gar zu künstlich.

Beide Visionen enthalten Allegorien. Wir unterscheiden unter den Allegorien 1. „allegorisierte Stoffe“, d. h. solche Stoffe, in die nachträglich eine Allegorie hineingedeutet worden ist; 2. „Allegorien“ im eigentlichen Sinne, die von Anfang an als solche vom Verfasser erdichtet worden sind. Man erkennt beide Stilarten daran, daß die allegorisierten Stoffe auch

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Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/16&oldid=- (Version vom 30.6.2018)