Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
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wiederherstellen und seine Frevel „auf den Hauptpunkt“ bringen. Der Löwe ist der Christus, der dem Weltreich ein Ende macht. Das Gesicht enthält also im Umriß die ganze Geschichte des Weltreichs. Auch diese Erklärung ist noch mysteriös gehalten; handelt es sich doch um tiefe Geheimnisse, die es nicht am Lichte des Tages auszusprechen ziemt. Die sehr große Litteratur über dieses Gesicht s. bei Schürer a. a. O. und Clemen, Stud. u. Krit. 1898, S. 242f.
Das Weltreich ist das römische Kaiserreich. (Andere Erklärungen, wonach es das Rom bis auf Cäsar oder die griechischen Reiche nebst Cäsar, Antonius und Octavianus sein sollte, kommen nicht mehr in Betracht; vgl. Schürer³ III, 237-243). Die rechten Flügel-Könige sind Cäsar, Augustus (der länger als alle folgenden regiert), Tiberius, Caligula, Claudius, Nero; die 6 linken Flügel-Könige, die nur kurze Zeit regieren, sind Galba, Otho, Vitellius, Vindex, Nymphidius, Piso. In der Mitte des Reiches (nach Neros Tode) folgt eine Zeit der Verwirrung. Die 3 Häupter, die das Reich dann reorganisieren und Roms Frevel auf den Gipfel bringen (Zerstörung Jerusalems durch Titus) sind Vespasian, Titus, Domitian; das mittlere Haupt, das mit den beiden anderen zusammen das Reich gewinnt, ist Vespasian, der „aus seinem Bette, aber doch unter Schmerzen gestorben“ ist; vgl. Sueton, Vesp. 24. Das rechte Haupt, das das linke verschlingt, ist Domitian, der nach dem Gerüchte Titus getötet haben soll; vgl. Aurelius, Victor, Caes. 10f. Schwieriger ist zu sagen, wer die 8 Gegenflügel = Gegen- oder Unter-Könige sein sollen: 4 davon sind bereits vor Vespasian gefallen, 2 sind ihm erlegen, 2 mit ihm verbündet. Ihre Namen vollständig zu nennen, ist uns nicht möglich; die beiden letzten, mit Vespasian verbündeten werden wohl die Statthalter Syriens und Ägyptens, Mucianus und Tiberius Alexander, sein; im übrigen müßte der Verfasser, der diese Zeit erlebt hat, hier ein reicheres Wissen besessen haben, als uns zur Verfügung steht. Doch ist bereitwillig zuzugeben, daß die vorgetragene Deutung an dieser Stelle wirklich an einer, wie es scheint, zunächst unüberwindlichen Schwierigkeit leidet. Für die Zukunft erwartet der Verfasser Domitians Tod, dann das kurze und stürmische Regiment zweier Generäle und darauf das Ende. — Andere haben, um Nebenschwingen unterzubringen, an jüdische Könige und Usurpatoren gedacht (so neuerdings wieder Kabisch a. a. O., S. 164) oder auf je 2 Schwingen nur einen Herrscher rechnen wollen (so neuerdings wieder Dillmann, Sitzungsber. der Akad. der Wiss. zu Berlin 1888, S. 215ff., Clemen a. a. O., S. 242 f., u. Wellhausen, Skizzen VI, S. 241ff.); beides ist durch den Text deutlich ausgeschlossen. Gegen die Erklärung Dillmanns spricht bes. deutlich 12,14-16 (wobei es sehr willkürlich ist, duodecim in 12,14 zu streichen), sodann 11,7f.12f.18, woraus hervorgeht, daß der Verfasser die Flügel und nicht die Flügelpaare als Könige zählt. Die oben vorgetragene Erklärung wird neuerdings hauptsächlich von Schürer vertreten.
Daneben kommt noch v. Gutschmids (Zeitschr. für wiss. Theol. 1860, S. 33ff.) Erklärung in Betracht, wonach die 12 Hauptschwingen Cäsar bis Nero, Vespasian, Domitian, Trajan, Hadrian, Antoninus Pius, Marcus Aurelius, die Nebenschwingen Titus und Nerva, Commodus, Pertinax, Didius Julianus, Pescennius Niger, die 3 Häupter Septimius Severus, Caracalla und Geta, die letzten beiden Nebenschwingen Macrinus und Diadumenianus († 218) sein sollen. Gegen diese Deutung macht Schürer mit Recht geltend, daß das Buch schon von Clemens Alex. citiert sei; die Annahme, das Gesicht sei eine spätere Interpolation im Buche (Gutschmid), scheitert daran, daß es im Stil mit dem übrigen Buche vielfach übereinstimmt (vgl. darüber im Folgenden); die Vermutung aber, dies Gesicht und namentlich die Deutung sei später in diesem Sinn überarbeitet worden, liegt nahe, ist aber nicht zu erweisen.
Die sechste Vision beschreibt, wie ein Mensch im Sturm aus dem Meer emporfährt und mit den Wolken des Himmels fliegt. Gegen ihn versammelt sich von den vier Winden des Himmels ein unzählbares Heer von Menschen, um ihn zu bekriegen. Der Mensch aber fliegt
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/15&oldid=- (Version vom 30.6.2018)