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des Judentums, die Seligkeit durch Werke des Gesetzes verdienen zu können, auch in der universalistischen Haltung: auch IV Esra denkt und sorgt nicht nur für sein Volk, sondern zugleich für alle Menschen. Größer aber als die Ähnlichkeiten zwischen beiden sind die Unterschiede. Der Verfasser des IV Esra hat sich an seinen tiefen, traurigen Erfahrungen zermartert, Paulus aber hat den Heiland gefunden, der ihn über alle Zweifel und Anfechtungen hoch emporgehoben und in eine Welt voll Kraft und Leben und Zuversicht gestellt hat, dessen Evangelium er von da an mit brausender Begeisterung verkündet. Unser Verfasser aber ist keine abgeschlossene, zuversichtliche, wuchtige Persönlichkeit, kein Herr der Dinge, sondern eine zerrissene Natur, schwer beladen durch quälende Gedanken, im Kampf um die Weltanschauung. Ein Mensch wie dieser Apokalyptiker vermag gleich Empfindende zu rühren und zu fesseln; aber ein Mann mit der Energie des Glaubens und Denkens wie der Apostel besitzt die Macht, die Seelen der Menschen zu zwingen und die Welt umzugestalten. Die Sympathie für IV Esra ist also mit der Ehrfurcht und Bewunderung, die einem Heros wie Paulus gebührt, auch nicht von ferne zu vergleichen.

Selbstverständlich ist nicht alles, was der Verfasser sagt, von ihm zuerst gedacht worden. Tradition ist besonders überall da anzunehmen, wo der Verfasser eschatologische Dogmen bringt, z. B. daß der jüngste Tag 7 Jahre dauert (7,43), daß der Messias 400 Jahre regiert (7,28), daß es 7 Seligkeiten und 7 Qualen giebt (7,78-99), und deutlich ist, daß die ziemlich ungeordneten Aufzählungen von Zeichen (5,1-13. 6,18-28. 7,26ff., vgl. auch 9,1ff.) ererbtes Gut sind. Diese können ihm schon in schriftlicher Form vorgelegen haben. Es scheint so, als ob der Verfasser hier ein ursprünglich zusammengehöriges Stück auseinandergenommen habe, um es über sein Buch zu verteilen (Kabisch); doch ist er dabei so selbständig verfahren, daß eine reinliche Ausscheidung der benutzten Quelle nicht mehr möglich ist. Alle diese Zeichen sind übrigens sehr allgemeiner Art, wie man sie in jeder Epoche der Apokalyptik erwarten konnte und ähnlich erwartet hat; die Auffassung dieser Zeichen, als seien sie vom Verfasser auf Grund von wirklich erlebten, gleichzeitigen Ereignissen erdichtet worden (so z. B. Volkmar a. a. O., S. 362ff.), ist durch nichts angezeigt. Hier ist wiederum ein Punkt, an dem die „zeitgeschichtliche“ Erklärung abgewirtschaftet hat. Vielmehr sind diese Zeichen der Tradition entnommen. Hierdurch ist nicht ausgeschlossen, daß der Verfasser, der diese Zeichen kennt und die Zeit daraufhin beobachtet, in bestimmten Zeitereignissen die geweissagten Zeichen wiederzufinden glaubt und dadurch in der Überzeugung, jetzt nahe das Ende endlich heran, sich bestärkt fühlt; das scheint 9,1ff. der Fall zu sein. Dagegen nicht in der Aufzählung der Wunderzeichen 5,1-12, wo ganz allgemeine τέρατα, die man zu jeder Zeit erwarten konnte, zusammengestellt werden; hier hat Wellhausen, Skizzen VI, S. 247, zwei Zeichen herausgegriffen und den kommenden Herrscher auf „das neronische Gespenst“, das Feuer aus dem Abgrund auf den Ausbruch des Vesuvs vom Jahre 79 bezogen; höchst willkürlich und völlig unbeweisbar[1]. Da der Verfasser vielfach verschiedene Traditionen aufgenommen hat, so ist es auch nicht verwunderlich, daß die einzelnen Stücke nicht immer ganz zusammenstimmen: so gehört die Zeit der Weltherrschaft Israels und des Christus nach 6,9f. zum neuen, nach 7,29.31 zum alten Äon u. a. m. — Selbständiger ist der Verfasser in seinen Spekulationen; aber auch hier ist er, soweit wir zu sehen vermögen, kein erster Bahnbrecher, sondern ein Fortsetzer.

Das vierte bis sechste Gesicht enthalten Schilderungen der letzten Dinge und gehören der Absicht des Verfassers nach ebenso zusammen wie die beiden ersten. Das vierte Gesicht beginnt wie die vorigen mit einer Klage: über Israels zwar verheißene, aber nie erschienene


  1. Eine Äußerung von mir (Schöpfung und Chaos, S. 233) ist mehrfach dahin mißverstanden worden, als wolle ich jede „zeitgeschichtliche“ Erklärung innerhalb der Apokalyptik, speziell in der Offenb. Joh. bestreiten; wer die betreffende Stelle und das citierte Werk genauer liest, wird sehen, daß ich die meisten üblichen „zeitgeschichtlichen“ Erklärungen in der Offenb. Joh. für falsch halte, aber einzelne derartige Erklärungen in der Offenb. Joh. wie in der Apokalyptik überhaupt anerkenne.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/13&oldid=- (Version vom 30.6.2018)