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Antworten eines Glaubens, der sich immer wieder ermannt, an Gottes Gerechtigkeit und Liebe festzuhalten.

Der Verfasser hat diese inneren Kämpfe nun in einer höchst charakteristischen und vortrefflich passenden Form dargestellt: es ist ein Zwiegespräch zwischen Esra und einem Engel, der ihm erscheint. Der Mensch bringt die Fragen und Einwürfe, der Engel aber übernimmt die Partei des Glaubens; die niedere Natur klagt und fragt, aber die höhere tröstet und antwortet. Höchst naturwahr hat der Verfasser dabei das unermüdliche Ringen seines Geistes mit den schwierigen und letztlich unlösbaren Problemen dargestellt; wie Sisyphus seinen Stein so wälzt er in immer wiederholten Ansätzen seine Probleme, und immer wieder entgleiten sie seiner Hand. Der Unkundige wird an diesem unaufhörlichen Vonvornanfangen vielleicht Anstoß nehmen und sich wohl gar versucht fühlen, mit dem Messer der Kritik das „Überflüssige“ wegzuschneiden; der Kundige kennt es. - Die Gliederung des Stoffs in kleinere Gruppen, die so herauskommt, und die mit der Disposition unserer Katechismen verglichen werden kann, hat den Vorteil, daß jede einzelne Gruppe für sich leicht zu übersehen ist; solche Teilung entsprach gewiß dem Denkvermögen des Schriftstellers wie seiner Leser. Andererseits reißt sie vielfach das Zusammengehörige auseinander; sie ist schuld daran, daß die großen, durch Gedanken und Stimmung verbundenen Massen des Buchs von den Exegeten so vielfach übersehen worden sind. In der gegebenen Übersicht ist daher, um die Gedanken des Verfassers den modernen Lesern nahezubringen, von dieser Disposition abgesehen und eine Ordnung befolgt worden, wie sie ein moderner Schriftsteller solchen Gedanken geben würde. Im nachfolgenden Text habe ich versucht, durch Absätze und Überschriften dem Leser einen genauen Überblick der Gliederung des Buches selbst zu verschaffen. Auch hat der Verfasser, soweit möglich, für Abwechselung gesorgt. Er weiß seinen Fragen und Antworten immer wieder eine neue Seite abzugewinnen; er hat geschichtliche Rückblicke (3,4-36. 6,38-59), mehrere meist sehr einleuchtende Parabeln (4,13-21.40-42.48-50. 5,46-49.52-55. 7,3-14. 5,1-61. 8,2 f.41. 9,17), rührende Gebete (5,23-30. 7,132-139. 8,6-16.26-36), prachtvolle Schilderungen der Herrlichkeit Gottes (6,1-6. 8,20-24) und triumphierende Darstellungen des jüngsten Gerichts (6,25-28. 7,26-44. 8,52-54) eingestreut. - Höchst kunstvoll ist die Disposition des ersten Problems: die erste Vision behandelt die Unerkennbarkeit Gottes in breite Ausführung; die zweite spricht darüber ganz kurz und legt allen Nachdruck auf den Trost der Zukunft; die dritte redet allein vom kommenden Äon und beginnt dann das zweite Problem, das sich nunmehr auf Grund des Gefundenen erhebt. Das zweite Problem ist (wohl um die Siebenzahl der Visionen nicht zu überschreiten) nicht auf verschiedene Visionen verteilt, andererseits doch ebenso ausführlich behandelt wie das erste. So entsteht ein Mißverhältnis in der Größe der einzelnen Visionen: die dritte ist so groß wie die beiden ersten zusammen genommen. - ein Mißverhältnis, das der Verfasser eben mit in den Kauf genommen hat. - Besonders wohlgelungen ist es ihm, die Wogen seines Gefühls, die über ihn dahinbrausen, in schönen breiten Massen ausströmen zu lassen. Vortrefflich versteht er es auch, die Gedanken zu kurzen, eindrucksvollen und oft herrlichen Worten zusammenzupressen; er liebt es, solche kurze Sprüche einer längeren Auseinandersetzung voranzustellen (4,26. 5,33. 7,19.50.70.104. 8,1.46.47. 9,15f.) oder sie damit zu beschließen (7,15f.25. 8,3). In dem allen zeigt sich der Verfasser als ein nicht unbedeutender Stilist.

Besonders wichtig für die Erkenntnis des Wesens des Verfassers ist die Frage, wie seine Angaben über seine visionären Erfahrungen zu beurteilen seien. In der Nacht werden sie ihm zu teil (3,1. 11,1. 13,1), wenn er im Bette liegt (3,1) oder allein auf dem Felde ist (9,26. 14,1). Tagelang vorher hat er gefastet (5,20. 6,35) oder sich nur von Kräutern genährt (9,26); dann kommen sie nach herzzerreißenden Wehen, wenn er aus den Tiefen eines geängstigten Herzens in leidenschaftlichem Gebet um göttlichen Aufschluß bittet; und auch zwischen

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Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/10&oldid=- (Version vom 30.6.2018)