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jenem Äon teilzunehmen; Die jüdische Antwort auf diese Frage konnte keine andere sein als die des Gesetzes, daß die Gerechten das Erbteil bekommen, die Gottlosen aber ins Verderben gehn (7,17). Nun aber fällt dem Verfasser aufs Herz, wie traurig das Schicksal der Sünder sei: im Leben haben sie, nach dem Laufe dieser Welt, Leiden ertragen müssen, im Tode haben sie Strafe zu erwarten (7,18.117). Ach, und er kann es sich nicht verhehlen, daß die zukünftige Welt wenigen Erquickung bringen wird, vielen aber Pein (7,47); daß viele geschaffen sind, wenige aber gerettet werden (8,3); daß der Verbannten mehr sein werden als der Erlösten, wie die Flut mehr ist als der Tropfen (9,15 f.): ja, daß niemand unter den Weibgeborenen sei, der nicht gesündigt habe (7,46. 8,35). Und er kennt die Ursache dieses furchtbaren Schicksals; es ist das böse Herz, das die Menschen fast alle auf den Weg des Todes geleitet und vom Leben ferne geführt hat (7,48). — Unendliches Leid befällt ihr, wenn er der schrecklichen Qualen gedenkt, die der Gottlosen warten: die unvernünftigen Tiere haben es besser als die Menschen, die mit vollem Bewußtsein ins Verderben gehen (7,62-69); ach Erde, warum hast du jemals Menschen gezeugt (7,62.116); ach Adam, warum hast da gesündigt (7,118)! In thränenreichen Schilderungen vergleicht er das jammervolle Schicksal der Sünder mit der Fülle von Seligkeit, die sie für ewig verscherzt haben. Ganz unbegreiflich erscheint ihm dies Geschick der Menschen, ewiger Verdammnis zu verfallen (8,4 f.): ist das der barmherzige, gnädige, gütige Gott, der hienieden den Sündern so gerne vergiebt (7,132-139. 8,31-36)? Derselbe, der den Menschen mit so vieler Mühe auferzogen hat, kann der ihn dann erbarmungslos vernichten (8,8-14)? In sehnsüchtigen Gebeten fleht er Gott um Gnade an (8,6ff.20ff.): was ist der Mensch, daß du ihm so zürnen solltest (8,34)? Beweise deine Güte, indem du den Sündern vergiebst (8,32-36)! Du hast ja Mitleid mit deinen Geschöpfen (8,45).

Woher kommt dies eigentümliche Erbarmen des Verfassers mit den Sündern? Gewiß mit daher, daß er unter den Sündern auch sein eigenes sündiges Volk versteht (8,15ff.45); aber meist ist es die ganze sündige Menschheit, die ihm vor Augen steht. Dies Mitleid mit den Sündern (die bis zuletzt Sünder bleiben), kräftigen ethischen Religionen und so auch dem Evangelium fremd, ist ein Zeichen der Weichmütigkeit des gebrochenen Judentums. Besonders aber ist zu beachten, daß der Verfasser sich selbst unter die Sünder mit einrechnet (7,48.64.118.126. 8,17.31); es ist die eigene Heilsunsicherheit, die hier mitspricht. Der naive, kräftigere Menschenschlag der älteren Zeit, der sich z. B. in den Psalmen ausspricht, mochte meistens überzeugt sein, Gottes Gesetz erfüllen zu können, und gewöhnlich auch, es erfüllt zu haben; aber dies spätere Judentum in seiner inneren Gebrochenheit und zugleich in seiner größeren Tiefe verzweifelt daran, Gottes Geboten gerecht zu werden. So schlägt die Stimmung des Verfassers in höchst charakteristischer Weise um: bisher hatte er sich aus der Mühsal dieses Lebens heraus nach dem ewigen Leben mit ganzer Seele gesehnt; die Zukunft war ihm als das höchste Gut erschienen, um dessentwillen allein dies Leben ihm erträglich war; zugleich hatte das Gerechtigkeitsgefühl, das hier auf Erden allerorten beleidigt wird, das Gericht herbeigewünscht. Jetzt aber fällt ihm die ungeheure Wucht des Gedankens aufs Herz, daß das jüngste Geist den Sündern ewige Qual bringen wird; er bedenkt mit Entsetzen die unendliche Zahl der Sünder, und er hält Einkehr in sich selbst: da verheißt ihm die kommende Vergeltung nur Schrecken und Angst: wie viel besser wäre es uns, wenn wir nach dem Tode nicht ins Gericht müßten (7,69.117)! Was hilft es uns, daß uns die unvergängliche Welt versprochen ist, wenn wir Werke des Todes gethan haben (7,119-126)! — Wir dürfen in beiden Gedankenreihen Entwicklungsstufen des Judentums sehen: das ältere, apokalyptische Judentum hatte in den Hoffnungen auf ewiges Leben und Vergeltung seinen einzigen Trost gefunden, aber im späteren Judentum erkennen einzelne tiefe Naturen diese furchtbare Kehrseite der Vergeltungslehre, die sich gegen sie selbst richtet; denn diese Hoffnung ist eine entsetzliche Drohung für die

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Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/08&oldid=- (Version vom 30.6.2018)