Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
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Der Gedankengehalt des IV Esra ist bisher wesentlich nur so weit behandelt worden, als er für die chronologische Ansetzung des Buches oder etwa noch für die „messianische Hoffnung“ in Betracht kommt. — Der Verfasser hat zwei Arten von Stoffen darstellen wollen: 1. eigentlich apokalpptisches und zwar speziell eschatologisches Geheimwissen; dieser Stoff ist Dan. 7 ff. oder Offenb. Joh. 4 ff. vergleichbar; 2. religiöse Probleme und Spekulationen, die sich auf die Eschatologie beziehen und in dieser entweder ihre Beantwortung oder ihren Anlaß finden; dieser Stoff ist vergleichbar der Spekulation der paulinischen Briefe. Der Verfasser hat die behandelten Probleme dem Geheimwissen im Allgemeinen vorausgestellt — eine Anordnung, die mit derjenigen der Offenb. Joh. verglichen werden kann —, und hat damit ausgedrückt, daß er nicht auf die vielbewunderten geheimen Traditionen, sondern auf die Gedanken den Hauptwert lege und jene unter dem Gesichtspunkte dieser betrachtet wissen wolle. Auch ein Stück aus der Legende des Esra hat er wiedergegeben; dabei hat er das Hauptstück derselben, die Geschichte, wie Esra die heiligen Schriften wiederhergestellt habe, ans Ende gestellt. Kleinere Erzählungsstücke hat er in höchst geschickter Weise zwischen die einzelnen Teile der Spekulationen und Visionen eingewoben, um so die Abschnitte voneinander abzugrenzen. So entstehen mit der Schlußerzählung zusammen 7 Abschnitte, seit Volkmar „Visionen“ genannt; die Zahl „Sieben“ scheint der auf Stilabrundung bedachte Verfasser beabsichtigt zu haben.
Die drei ersten Visionen sind der Darstellung der religiösen Probleme gewidmet. In der ersten und zweiten Vision und in der ersten Hälfte der dritten (bis 7, 16) beschäftigt ihn das uralte Problem, woher das Leiden in der Welt komme. In einer langen Geschichte des Elends war die Kraft des zertretenen Israel gebrochen; so war auch dies früher so lebensfrohe Volk dem Pessimismus verfallen, der damals wohl schon seit vielen Jahrhunderten durch die gealterten und geknechteten Völker des Orients zog. Es hatte gelernt, daß diese Welt voll Trauer und Ungemach sei, daß dies Leben nicht wert sei, gelebt zu werden, und daß der Tod nicht, wie die Alten sagten, ein natürliches Geschick alles Lebenden sei, sondern eine Unnatur für den Menschen, der zu ewigem Leben geschaffen sei und das Recht habe, ewiges Leben für sich zu begehren. Zugleich war eine tiefere Auffassung von der Sünde eingezogen. Während die ältere Zeit geneigt war, jede einzelne sündige That für sich zu betrachten und die argen Sünden für sehr wohl vermeidbar anzusehen, so war man jetzt überzeugt, daß das ganze menschliche Geschlecht von jeher ganz in Sünde verstrickt und daß die letzte Ursache dieses allgemeinen Verderbnisses im tiefen Grunde des bösen menschlichen Herzens zu suchen sei. Beide so schmerzlichen Betrachtungen aber, die damals die Herzen der Tiefsten bewegten, hatte man verbunden in dem Satze, daß all dies Leiden und Sterben Gottes Gericht über all dies Sündigen sei: der Tod ist der Sünde Sold. Diese trüben und schwermütigen Gedanken hatten in dem Verfasser des IV Esra durch die Ereignisse der letzten Zeit neue Nahrung gefunden. Er hatte die entsetzliche Katastrophe seines Volkes erlebt, die er in erschütternden Worten unter bitteren Thränen schildert; die Sinne möchten ihm vergehen, wenn er des jammervollen Elends seines armen Volkes gedenkt (5, 33):
- „unser Heiligtum verwüstet,
- unser Altar niedergerissen,
- unser Tempel zerstört,
- unser Gottesdienst aufgehoben“ (10,21).
- „unser Heiligtum verwüstet,
Der Schmerz über den Untergang des Volks und über die eigene Verbannung aus der Heimat (3,1.29.33) wird ihm noch bitterer bei dem Anblick Babels, d. h. Roms, das aller heidnischen Laster voll ist und doch im Glück lebt (3,2.29). Die Hauptsache aber ist ihm der schwere religiöse Anstoß an der furchtbaren Thatsache, daß die Heiden, die nach Gott nicht fragen, Gottes erwähltes Volk haben zertreten dürfen (4,23. 5,23-30. 6,57-59).
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/05&oldid=- (Version vom 30.6.2018)