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Der aufrecht, jener auf dem Kopf; der bückte
Sich bogengleich, das Haupt zum Fuß gewandt.

16
Als hinter ihm ich so weit vorwärts rückte,

Daß es dem Meister nun gefällig schien,
Mir Den zu zeigen, den einst Schönheit schmückte,

19
Da trat er weg von mir, hieß mich verziehn,

Und sprach zu mir: „Bleib, um den Dis zu schauen
Und hier laß nicht dir Muth und Kraft entfliehn.“

22
Wie ich da starr und sprachlos ward vor Grauen,

Darüber schweigt, o Leser, mein Bericht,
Denn keiner Sprache läßt sich dies vertrauen.

25
Nicht starb ich hier, auch lebend blieb ich nicht;

Nun denke, was dem Zustand dessen gleiche,
Dem Tod und Leben allzugleich gebricht.

28
Der Kaiser von dem thränenvollen Reiche

Entragte mit der halben Brust dem Glas,
Und wie ich eines Riesen Maß erreiche,[1]

31
Erreicht’ ein Riese seines Armes Maß.

Nun siehst du selbst das ungeheure Wesen,
Dem solch ein Glied verhältnismäßig saß.

34
Ist er, wie häßlich jetzt, einst schön gewesen,

Und hat den güt’gen Schöpfer doch bedroht,
So muß er wohl der Quell sein alles Bösen.

37
O Wunder, das sein Kopf dem Auge bot!

Mit drei Gesichtern sah ich ihn erscheinen,[2]
[195] Von diesen aber war das vordre roth.

40
Anfügten sich die andern zwei dem einen,

Gerad’ ob beiden Schultern hingestellt,
Um oben sich beim Kamme zu vereinen;

43
Das Antlitz rechts weißgelblich – ihm gesellt,

Das links, gleich dem der Leute, die aus Landen
Von jenseits kommen, wo der Nilus fällt

46
Groß, angemessen solchem Vogel, standen[3]

Zwei Flügel unter jedem weit heraus,
Die wir den Segeln gleich, nur größer fanden,

49
Und federlos, wie die der Fledermaus.

Sie flatterten ohn’ Unterlaß und gossen
Drei Winde nach verschiedner Richtung aus.

52
Dadurch ward der Cocyt mit Eis verschlossen.

Sechs Augen waren nie von Thränen frei,
Die auf drei Kinn’ in blut’gem Geifer flossen.

55
Und einen armen Sünder malmt’ entzwei

Und kaute jeder Mund, daher zerbissen,
Flachsbrechen gleich, die scharfen Zähne ihrer drei.

58
Der vordre Mund schien sanft in seinen Bissen,

Verglichen mit den scharfen Klau’n, zu fein,
Die oft die Haut vom Fleisch des Sünders rissen.

61
Da sprach Virgil: „Sieh hier die größte Pein!

Ischarioths Kopf steckt zwischen scharfen Fängen,[4]
Und außen zappelt er mit Arm und Bein.

64
Zwei Andre sieh den Kopf nach unten hängen;[5]

  1. 30. [D. h.: so wenig ich – so wenig etc.]
  2. 38. Dis oder Lucifer, das böse Princip, das zuerst durch den Abfall von Gott in die Welt getreten. [Der Leser wird dem Dichter nicht zum Vorwurf anrechnen, daß sein Satan, z. B. gegenüber Milton’s kämpfenden Drachen, nichts weniger, als eine großartige Gestalt ist. Der Gang und Plan des Gedichts gebot, ihn durchaus als schon gefallenen Engel aufzufassen.] Wir sehen ihn denn hier eben als Bestraften und als Werkzeug der göttlichen Strafe, wie wir an vielen Orten die Sünder gefunden haben. Er hat drei Gesichter, welche nach Lombardi’s Erklärung auf die drei damals bekannten Welttheile, und somit auf die Allgemeinheit der Sünde und die Herrschaft des Lucifer hindeuten sollen – das rothe auf die rothwangigen Europäer, das gelbe auf die Asiaten, das schwarze auf die Afrikaner. Nach Landino und andern ältern Auslegern bezeichnen die Farben der Gesichter Zorn, Geiz und Trägheit, der Kamm darüber hingegen Hochmuth – Laster, durch welche die Herrschaft des Lucifer vorzüglich begründet und ausgedehnt wird.
  3. [195] 46. Die Flügel sind nicht die, welche den Vogel aufwärts in das heitere Licht tragen, sondern die der nächtlichen Fledermaus. Nach allen Seiten der physischen und moralischen Welt hin strömt ihre Bewegung den Wind aus, welcher in seiner nächsten und unmittelbarsten Wirkung das Eis des Cocytus, den starren Schauder der schlimmsten Verbrecher, hervorbringt.
  4. 62. Ischarioth, der Verräther seines göttlichen Wohlthäters, nimmt mit Recht den ersten Platz unter den drei größten Verräthern ein.
  5. 64. 67. Brutus und Cassius, die Verräther und Mörder Cäsars. Der ausgezeichnete Platz, den ihnen der Dichter vor andern ähnlichen Verräthern anweist, wird hinreichend durch die Meinung desselben erklärt, daß das römische Reich auf Gottes unmittelbare Veranstaltung gestiftet sei, um die weltliche Herrschaft über den Erdkreis zu führen. [Der Leser weiß aus unserer Vorbem. bei Gs. 1. 1, sowie aus Ges. 1, 62; 9, 61–103 und der Anm. dazu, daß Dante jene [197] Ansicht von der providenziellen Stiftung des römisch-deutschen Reichs nicht nur in einem besonderen Buch „de monarchia“ entwickelt, sondern auch als einen der leitenden Grundgedanken der ganzen göttl. Kom. einverleibt hat. Wir werden dieselbe im 3. Theil, Parad. Ges. 6; 18, 108 ff; Ges. 20, V. 8. 9, noch besonders ausgesprochen finden. – Daß der „hagere“ Cassius als fett geschildert wird, beruht auf einem historischen Irrthum.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 194 bzw. 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_194195.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)