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Sah ich – ein Wunder scheint es und erdichtet –
Vom Kinn sie bis zum Achselbein verrenkt,

13
Das Angesicht zum Rücken hingerichtet;

Drum mußten sie gezwungen rückwärts gehn,
Und ihnen war das Vorwärts-Schau’n vernichtet.

16
So soll ein Schlagfluß wohl das Haupt verdrehn,

Wie man erzählt in wunderlichen Sagen,
Doch glaub’ ich’s nicht, da ich es nie gesehn.

19
Läßt Gott dein Lesen, Leser, Früchte tragen,[1]

So frage selber dich, wie mir geschah,
Ob ich nicht weinen mußt und ganz verzagen,

22
Als ich des Menschen Ebenbild so nah

Verrenkt, verdreht, und von der Augen Thränen
Genetzt den Spalt der Hinterbacken sah?

25
Wahr ist’s, auf eine von den Felsenlehnen

Stand ich gestützt, und weinte ganz verzagt;
Da sprach mein Herr: „Willst du, gleich Thoren, wähnen?

28
Fromm ist nur, wer das Mitleid hier versagt.[2]

Wer ist verruchter wohl, als wer zu schmähen
Durch sein Bedauern Gottes Urtheil wagt?

31
Empor das Haupt, empor! Den wirst du sehen,[3]

Den einst vor Thebens Blick der Grund verschlang;“
[113] Drob alle schrie’n: Wohin, was ist geschehen?

34
Amphiaraus, wird der Kampf zu lang? –

Doch stürzt’ er fort und fort im tiefen Schachte,
Bis Minos ihn, gleich anderm Volk, bezwang.

37
Schau, wie er ihm die Brust zum Rücken machte!

Schau, wie er rückwärts schreitet, rückwärts sieht,
Weil er zu weit voraus zu sehen dachte.

40
Tiresias sieh, der uns entgegenzieht.[4]

Er, erst ein Mann, ward durch des Zaubers Gabe
Verwandelt in ein Weib an jedem Glied.

43
Dann aber schlug er mit dem Zauberstabe

Zuvor auf zwei verwundne Schlangen ein,
Damit er wieder Mannsgestaltung habe.

46
Den Rücken ihm am Bauch, kommt hinterdrein,

Nah angedrängt an ihn, des Aruns Schatte,[5]
Der lebend einst in Luni’s Felsenreihn

49
Als Haus die weiße Marmorhöhle hatte,

Wohl ausgesucht, daß sie zum Meeresstrand
Und zu den Sternen freien Blick gestatte. –

52
Die mit den wilden Haaren ohne Band

Die Brüste deckt, die sich nach hinten kehren,
Was sonst am Leib ist, hinterwärts gewandt,

55
War Manto, die in Ländern und auf Meeren[6]

Umirrte bis zum Ort, der mich gebar.
Von dieser will ich näher dich belehren.

58
Nachdem der Welt entrückt ihr Vater war,

Und Bacchus Stadt verfiel in Sclavenbande,
Durchstreifte sie die Welt so manches Jahr.


  1. 19–24. Das hier folgende Bild ist von vielen gemein gefunden worden, als wenn der plastische Künstler nicht auch die Theile der Menschengestalt darstellen müßte, welche man in den Salons der feinen Welt am Theetische nicht nennen darf! Wir finden das Bild ungemein, da es die Sache mit höchster Klarheit vor die Augen stellt, und uns zu ernster Betrachtung auffordert.
  2. 28. Im Original: qui vive la pietà quand’ è ben moria – ein Wortspiel, das im Deutschen nicht wiederzugeben ist, da wir kein Wort haben, welches zugleich Mitleid und Frömmigkeit bedeutet. Die Lehre, welche die Vernunft hier gibt, ist unbestreitbar richtig. Aber der Dichter zeigt, daß es dem Herzen schwer wird, sie aufzufassen und zu befolgen. – Wir müssen erkennen, daß die innere oder äußere Strafe, welche dem Verbrechen folgt, Wirkung der ersten Liebe des Schöpfers ist (Ges. 3 V. 6). Aber wir werden nicht umhin können, Mitleid zu fühlen, wenn wir den Verbrecher, unser Ebenbild, der Strafe anheimgefallen sehen.
  3. 31. Amphiaraus, einer der sieben Anführer im Kriege gegen [113] Theben, weigerte sich lange, an diesem Kriege Theil zu nehmen, weil er, in die Zukunft blickend, seinen Untergang dabei voraussah. Ihn verschlang während der Schlacht die Erde.
  4. 40. Tiresias, ein thebanischer Wahrsager, ward, indem er zwei Schlangen mit seinem Stabe schlug, in ein Weib, und auf dieselbe Weise sieben Jahre später wieder in einen Mann verwandelt.
  5. 47. Aruns, ein toscanischer Wahrsager, der in der Gegend von Carrara wohnte.
  6. 55. Manto, eine Tocher des Tiresias, ebenfalls eine Wahrsagerin, floh, nach dem Tode ihres Vaters, als Theben unter Kreons Herrschaft gekommen war, durch manche Länder nach Italien, und gründete dort Mantua.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 112 bzw. 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_112113.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)