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„„Jetzt, Dichter,““ fing ich an, „„bevor wir gehen,

Erwäge meine Kraft und Tüchtigkeit!
Kann sie die große Reise wohl bestehen?

13
Du sagst, daß Silvius’ Vater in der Zeit,[1]

Im Körper noch, und noch ein sterblich Wesen
Sei eingedrungen zur Unsterblichkeit.

16
Doch da, der stets des Bösen Feind gewesen,

In seinen Empyre’n zum Stifter ihn
Der Mutter Roma und des Reichs erlesen,

19
Kann Jeder, dem Vernunft ihr Licht verliehn,

Beim hocherhabnen Zweck es wohl ergründen,
Daß er nicht unwerth solcher Huld erschien.

22
Denn Rom und Reich, um Wahres zu verkünden,

Gestiftet wurden sie, die heil’ge Stadt
Zum Sitz für Petri Folger zu begründen.

25
Durch diesen Gang, den du besangest, hat

Er Kunde deß, wodurch er siegt’, empfangen
Und Grund gelegt zur heil’gen Herrscherstatt.

28
Ist das erwählte Rüstzeug hingegangen,

So stärkt’ es in dem Glauben dann die Welt,
In dem der Weg des Heiles angefangen.

31
Doch ich? warum? wer hat mir’s freigestellt?[2]

Ich, Paul nicht noch Aeneas, dessen Schwäche
Nicht ich, noch Jemand dessen würdig hält.

34
[15] Wenn ich dorthin zu kommen mich erfreche,

So fürcht’ ich, daß mein Kommen thöricht sei.
Du Weiser, weißt es besser, als ich spreche.““

37
Und wie, wer will und nicht will, mancherlei

Erwägt und prüft, und fühlt im bangen Schwanken,
Mit dem, was er begonnen, sei’s vorbei;

40
So ich – das was ich leicht und ohne Wanken

Begonnen hatte, gab ich wieder auf,
Entmuthigt von den wechselnden Gedanken.

43
„Verstand ich dich,“ so sprach der Schatten drauf,

„So fühlst du Angst und Schrecken sich erneuen
Und Feigheit nur hemmt deinen weitern Lauf.

46
Das Beste macht sie oft den Mann bereuen,

Daß er zurücke springt von hoher That,
Gleich Rossen, die vor Truggebilden scheuen.

49
Doch hindre sie dich nicht am weitern Pfad,

Drum höre jetzt, was ich zuerst vernommen,
Da mir’s um dich im Herzen wehe tat.

52
Mich, nicht in Höll’ und Himmel aufgenommen,[3]

Rief eine Frau, so selig und so schön,[4]
Daß ihr Geheiß mir werth war und willkommen,

55
Mit Augen, gleich dem Licht an Himmelshöhn,

Begann sie gegen mich gelind und leise,
Und jeder Laut war englisches Getön:


  1. 13–30. Wie der Dichter, um seine großen Ideen dem Geiste durch die Sinne einzuprägen, Bilder und Gleichnisse, wie sie sich darbieten, aus den Mythen des heidnischen Alterthums und aus der heiligen Schrift nimmt, so stellt er auch hier aus Beiden Beispiele solcher zusammen, die lebend in die Reiche der Todten versetzt wurden. Aeneas wurde in die Unterwelt geführt, um dort Nachrichten zu empfangen, welche die Gründung Roms, mithin des römischen Reichs und des päpstlichen Stuhles förderten. (Beiläufig möge nicht unbemerkt bleiben, daß der Dichter, so streng er auch allenthalben die Verdorbenheit der Päpste und ihr Streben nach weltlicher Herrschaft straft, doch V. 22 bis 24 wie überall vor dem Institute des Papstthums selbst, vor dem monarchischen Princip in der Kirche die größte Ehrfurcht zeigt.) Paulus ward in den Himmel entzückt, um durch das, was er dort sah, den Glauben auszubreiten und zu befestigen.
  2. 31–42. Aeneas und Paulus wurden, lebend noch, in die Reiche, [15] die jenseits des Lebens und seiner Irrthümer liegen, geführt, weil die Vorsehung durch Beide hohe Zwecke fördern wollte. Aber kann der Dichter dasselbe hoffen?
  3. 52. [Wörtlich „bei den unentschiedenen Seelen“ d. h. bei den tugendhaften Heiden wohnend, deren milder Aufenthaltsort, außerhalb der Hölle, sogleich im 4. Gesang beschrieben ist.]
  4. [53–75. Dante legt hier dem Virgil die Erzählung des ursprünglichsten Anlaßes seines ganzen Gedichtes in den Mund: Verherrlichung Beatricens, als seiner geistigen Retterin aus dem Verderben, aus der im „finstern Wald“ Gs. 1. 2 versinnbildlichten und schon S. 7 erwähnten Jugendverirrung. Man hat hierbei an des Dichters unbekehrte Jugend überhaupt, speciell vielleicht an eine Epoche zu denken, da er nach Beatricens frühem Tod sich in ein Leben des Genusses stürzte, aus dem ihn endlich die ideale Rückkehr zur Geliebten rettete. Er verheirathete sich dann ohne Neigung. – Beatrix also sendet aus alter Liebe dem Irrenden den Virgil. Dies ist zunächst die historische Bedeutung dieser Stelle. Immerhin liegt nebenbei auch der Sinn darin, daß auch die Vernunft, die natürliche Gottesahnung eine [16] Art Vorbotin der Gnade, eine Gabe des Himmels, uns erstmals nach oben zu weisen, sei. – Beiläufig sei hier kurz erwähnt, daß Beatrix Portinari aus Florenz als achtjähriges Mädchen von dem jungen Dante erstmals gesehen und von ihm mit idealster Liebe lebenslang in unauslöschlichem Andenken behalten wurde, wiewohl er sie nur zweimal wiedersah und sie niemals sprach!]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 14 bzw. 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_014015.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)