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Drum kehrt’ ich zu der Herrin das Gesicht,
Von Nicht-Schau’n und von Liebesdrang gezwungen.[1]

16
Wär’ Alles, was bis jetzo mein Gedicht

Von ihr gelobt, in ein Lob einzuschließen,
Doch g’nügend wär’s für diesen Anblick nicht.

19
Denn Reize, wie sie hier sich sehen ließen,[2]

Weit überschreiten sie der Menschen Art;
Ihr Schöpfer nur kann ihrer ganz genießen.

22
Ich bin besiegt von dem, was ich gewahrt,

Mehr als ein Komiker von seinen Stoffen,
Als ein Tragöd’ je überwunden ward.

25
Gleichwie ein Blick, den Sonnenstrahlen offen,

Vergeht vor ihren Blitzen, so geschieht
Dem Geist, von dieses Lächelns Reiz getroffen.

28
Vom ersten Tag, da mir der Herr beschied,[3]

Ihr Angesicht zu schau’n in diesem Leben,
Folgt’ Ihr bis hin zu diesem Blick mein Lied.

31
Doch jetzt muß ich des Wunsches mich begeben,

Kein Künstler je sein letztes Ziel errang! –[4]
Noch höher ihrer Schönheit nachzustreben.

34
Und so, wie ich sie lasse vollerm Klang,

  1. [15. Von Nicht-Schaun, weil alles dem Auge Erkennbare verschwunden war.]
  2. [19 ff. Zum Schönsten im Paradies gehört der unversiegliche Reichthum von Bildern, womit der Dichter die von Stern zu Stern wachsende Schönheit der Beatrix worauf wir schon S. 398 unten aufmerksam gemacht haben, immer neu zu variiren weiß. Davon vermag sich der Leser jetzt leicht durch eine Zusammenstellung der betreffenden loci zu überzeugen. Ebenso davon, wie und warum die wachsende Entfaltung der Schönheit Beatricens hier ihren Abschluß findet und finden muß, gemäß dem, derselben zu Grunde liegenden, tieferen Sinn. Denn vor Gottes Angesicht erst, von dem sie ausgegangen, strahlt die Gnade im höchsten, unbegrenzten Glanz, welchen der Mensch von Erden nicht zu fassen, welchen nur Gott selbst „ganz zu genießen vermag“, V. 21. Sie ist die Selbstanschauung Gottes in seiner Heilsoffenbarung.]
  3. [28–33. Der historische Hintergrund der Gestalt und Funktion Beatricens in der göttl. Kom. tritt hier wieder deutlich hervor. Vgl. zu Fegf. 30, 31 und jetzt gleich nachher zu Ges. 31, 58.]
  4. [32. „Ein Gedanke“, meint Notter mit Recht, „für welchen allein schon unser Dichter den Lorbeer verdienen würde.“]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_588.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)