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Doch ärger kränkt dies Letzte Recht und Pflicht.

85
Der Eine Weg ist’s nicht, auf dem ihr schreitet[1]

Bei eurem Forschen; drob ihr irre geht,
Von Lust am Schein und Eitelkeit verleitet.

88
Doch, wenn die heil’gen Schriften man verschmäht,[2]

Dies hat den Himmel stets noch mehr verdrossen,
Wenn man hintan sie setzt und sie verdreht!

91
Nicht denkt man, wie viel theures Blut geflossen,

Sie auszusä’n; nicht, wie Gott dem geneigt,
Der demuthsvoll an sie sich angeschlossen.

94
Zu glänzen strebt ein Jeder jetzt und zeigt

Sich in Erfindungen, die der verkehrte
Pfaff predigt, der vom Evangelium schweigt.

97
Der sagt, daß rückwärts Luna’s Lauf sich kehrte

Bei Christi Leiden, und sich zwischenschob,
Und drum der Sonn’ herabzuscheinen wehrte.

100
Der, daß von selbst das Licht erlosch und drob[3]

  1. [85. 87. Wenn „non – per uno sentiero“ nach dem eben Bemerkten nicht die blos äußere Einmüthigkeit der Ansichten ausdrücken soll, so kann es nur heißen: „nicht in einem Sinn, in einem Wahrheitsstreben“ oder „im Streben nach dem Einen, der ewigen Wahrheit in Gott, dem ewig-Einen, worin, nach V. 76 ff., die Engel alles sehen“ (Delff.). Beides kommt auf dasselbe hinaus, gleichwie in V. 87 die Auffassung von „l’amor dell’ apparenza e il suo pensiero“ als „Liebe zum Scheinwesen und Sinnen nach demselben“ oder als „bloses Streben nach Ergründung der äußeren Erscheinung der Dinge.“
  2. [583] [Schlußbemerkung zu V. 88–126.[WS 1] – Es ist hier angezeigt, die in der Schlußbemerkung zu Ges. 24 angestellten Betrachtungen über Dante’s Stellung zum Dogma von der Schrift und der Tradition zu Ende zu führen. Was dort schon uns sich aufgedrängt hat, das kann die vorliegende Stelle und der Rückblick von hier aus nur zur evidenten Thatsache erheben: daß nämlich unser Dichter, der schon in einer Stelle der Monarchie sich direkt gegen die kirchliche Tradition ausspricht, nicht nur das Schriftwort und nur das Schriftwort als unbedingte, höchste, (V. 93), der Kirche selbst vorangehende (V. 109) Autorität und einzige Quelle und Grundlage der kirchlichen Lehre mit aller Macht zu betonen jede Gelegenheit ergreift (Ges. 5, 76 ff.; 9, 133; 19, 83; 24, 61 ff. 94 ff. 136 ff.; 25, 76 und 88; 26, 41 und 43; 29, 41, 88 ff. und V. 93) – sondern auch, daß er der Generation die Verantwortung der selbstverschuldeten Nichtbenützung derselben mit vollster Energie in’s Gewissen schiebt, V. 108. Letzterem bedeutsamsten Vers hat man mit Unrecht und vergeblich diese, seine Spitze abzubrechen gesucht. „E non le scusa, non veder lo danno“ „und nicht entschuldigt sie’s, den Schaden nicht zu sehen“ kann doch nicht blos heißen sollen: „es hilft ihnen nichts, den Schaden nicht sehen zu wollen; er kommt dennoch.“ Vielmehr, was der nächste Wortsinn ist, das entspricht auch offenbar dem ganzen Zusammenhang und Gedankengang des Dichters: es entschuldigt sie vor Gott nicht, die besprochenen Irrlehren (103 ff.) und ihren Schaden, dessen Eingetretensein ja in V. 107 bereits constatirt ist, nicht einzusehen, ihn nicht vorausgesehen und den Priestern gedankenlos vertraut zu haben. Denn, V. 109, was „der Herr sprach“ ist maßgebend und das können sie wissen und erfahren, bezhw. sollten es zu erfahren suchen. – In dieser Fassung ist denn auch der Ausspruch keineswegs gegenstandslos in einer Zeit, mit Rücksicht auf welche er allerdings nicht, wie es von einigen Erklärern geschieht, kurzweg als eine vorwurfsvolle Aufforderung gefaßt werden kann, „die Bibel, die man ja habe, in die Hand zu nehmen!“ Denn von einem eigentlichen Bibellesen des Volks konnte damals aus verschiedenen Gründen nicht die Rede sein. Aber einmal hat hier Dante gewiß zunächst die einigermaßen Gebildeteren im Auge, welche denn auch damals überall, soweit sie lesen konnte, der lateinischen Sprache mächtig waren, aus welcher ja der Dichter selbst ebenfalls allein den Schrifttext kannte und citirte. Sodann aber fehlte es auch damals schon nicht ganz an Versuchen, das Schriftwort dem Volk in den Nationalsprachen zugänglich zu machen, besonders nicht ganz an volksthümlichen und schriftmäßigeren Predigern in Deutschland, wie in Italien (Berthold † 1272, Giov. v. Vicenza um 1230; Franziskus und seine früheren Jünger; über das Bibelverbot vgl. zu Ges. 5, 73 ff.). Auch auf diese Vorgänge hin konnte also D., der [584] Begründer und Verfechter der nationalen Sprache in Italien, den fraglichen, übrigens keineswegs blos auf Italien zielenden, Ausspruch wohl thun. Schließlich werden wir im weitesten Sinn einen Ruf an alle Besserdenkenden, an die ganze Christenheit darin erkennen, sich durch die, von der Kirche genährte Unwissenheit nicht gedeckt und gerechtfertigt zu glauben, sondern gemäß des gotteingesenkten Wahrheits-Triebs, den er einem Jeden gab (2, 112; 4, 124 ff.) das Verkündete zu prüfen und, über jede Verwehrung und Verkehrung der Wahrheit hinweg, mit allen Mitteln ihrer Quelle in der Schrift zuzudrängen und zuzustreben. – So haben wir denn hier jedenfalls eines der machtvollsten und beziehungsreichsten Reformationsworte des Mittelalters, in welchem sich zugleich eine entschiedene Lehrdifferenz zwischen Dante und seiner Kirche zusammenfaßt (über die heil. Schrift), während er sonst, ein treuer Anhänger der Kirchenlehre, ausschließlich praktische Reformationsbedürfnisse betont. Wir erinnern auch an die Stellen über die Seligkeit der Nichtchristen, Ges. 19, 33 und werden bei Ges. 33, 43 noch seine Auffassung der Maria hervorzuheben haben – s. dort. Eine eingehendere, zusammenhängende Darstellung und Würdigung des ganzen, reformatorischen Gehalts der göttl. Kom., wozu hier der Ort nicht ist, haben wir im letzten Abschnitt unsrer öfter angeführten Schrift, S. 182 ff., versucht
  3. [100. Nach der LA.: „ed altri“. Andere LA.: „e mente“ = „und lügt“; von selbst erlosch das Licht etc.“ – Im ersten Fall tritt D. beiden Ansichten (des Pseudodionys und des Hieronymus nebst Thomas), als unnützen Fräglein, entgegen; im andern Fall blos der ersten, welche er, freilich selbst subjektiv genug, für eine Verdrehung des klaren Schriftsinns hält, was bei dem Ernst, mit welchem er die kleinsten Lehrmeinungen oft verfolgt, nicht unmöglich ist. Aber auf die Nothwendigkeit, alles in der Schrift zu begründen [581] und hierbei ihren einfachsten Sinn walten zu lassen, eventuell ohne Schriftgrund nichts unnütz zu diskutiren, fällt also jedenfalls, bei dieser oder jener Fassung, der ausschließliche Nachdruck.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Anmerkung vorgereiht.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_580.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)