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In dem der Kreis sich dreht von größter Eile,

124
Läßt zum bestimmten Platz in jener Welt

Uns jetzo durch die Kraft der Sehne bringen,
Die, was sie treibt, nach heiterm Ziele schnellt.

127
Wahr ist’s, daß, wie oft Formen nicht gelingen,

Wie sie in sich des Künstlers Geist empfahn,
Wenn spröde mit der Kunst die Stoffe ringen,

130
So das Geschöpf oft weicht von seiner Bahn,

Denn ihm ist von Natur die Kraft verliehen,
Trotz jener Kraft, sich anderm Ziel zu nahn,

133
Wenn erdenwärts es falsche Reize ziehen –

Gleichwie man seh’n kann aus der Wolke Schlund
Zum Boden hin des Feuers Strahlen fliehen.

136
Nun ist dir, denk’ ich, weniger nicht kund,

Wie von der Erde du emporgestiegen,
Als, wie der Bach vom Berge fließt zum Grund!

139
Bliebst du, von Hemmniß frei, am Boden liegen,

Erstaunenswerther wär’s, als sähest du
Träg an den Grund sich lebend Feuer schmiegen.“[1]

142
Hier wandt’ ihr Antlitz sich dem Himmel zu.
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  1. [141. Der Leser wird, in Erinnerung an das schon im V. 1–4 ausgesprochene Grundgesetz, leicht der vorstehenden, großartigen und tiefsinnigen Darstellung des Weltlaufs gefolgt sein, nicht ohne bei den schönen kühnen Worten V. 112–114, und nicht blos in poetischer Hinsicht, an die Stelle im Faust erinnert worden zu sein: In Lebensfluten, im Thatensturm, wall’ ich auf und ab etc. – Also: Alles in der Welt strebt in seinem Theile, theils näher, theils ferner, theils unbewußt, theils bewußt, mitunter auf ganz verschiedenen Wegen, vom gotteingesenkten Triebe geführt, zur Gottheit zurück! Dieser Trieb, selbst ein Theil des Göttlichen, ist die eigentliche bewegende Kraft des Weltganzen und erhebt die Weltordnung zum Abbild der Gottheit, V. 104. 106 ff. bis 114. Er wirkt die Elementar-Erscheinungen in Natur- und Menschheit, z. B. den Zug des Feuers nach oben, den Umschwung der Erde unten, die physisch-psychische Seite des Menschenlebens, wie sie in der [405] Herzbewegung ruht, V. 115–117. Er waltet aber auch in den vernünftigen Wesen als das höhere, geistige Begehrungsvermögen nach Gott V. 118–121. Er äußert sich im höchsten Himmel als ewiges Ruhen in Gott und wiederum schwingt er die andern Sphären in der ewigen Sehnsucht nach seinem Ziele unablässig um, V. 121–123. Aber wie er auch wirke – sein „heitres“ Ziel ist immer und überall dasselbe und sicher führt er jedes Ding demselben zu, V. 124–126. Freilich ist den höheren Wesen jene Freiheit des Willens gegeben, deren mögliche Abirrung vom wahren Ziele in Fegf. Ges. 16–18, 74 entwickelt worden ist und auch hier in Betracht kommt, V. 127–135. Aber nimmer beim geläuterten Menschen! Dieser muß sich, der ursprünglichen Bestimmung treu, gerade dem Ziele zu immer mehr emporheben, wie D. jetzt, zum Sinnbild davon, körperschrankenlos sich in den Himmel schwingt, V. 136–140. Vgl. zu V. 98 und Ges. 2, 37.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_404.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)